Unter Haien - Neuhaus, N: Unter Haien
Rat in einer persönlichen Angelegenheit gebeten, aber er hatte auch noch nie so heftige und verwirrende Gefühle erlebt. Bis er Alex kennen gelernt hatte, hatten Frauen in seinem Leben eine nebensächliche Rolle gespielt, aber nun war plötzlich alles anders. Seit ihrer ersten Begegnung war sie in seinem Kopf herumgespukt und in Träumen aufgetaucht, die er bis dahin nie gehabt hatte. Ihre anfänglich kühle Unnahbarkeit hatte sein Verlangen bis ins Unerträgliche gesteigert. Die meisten Frauen machten sich zu leichter Beute, wenn sie erst wussten, wer er war, und das war mehr als langweilig, aber Alex hatte ihn sechs lange Wochen zappeln lassen. Die Mischung aus Kühle und Leidenschaft in ihren Augen hatte einen Funken in ihm entzündet, der sich in seinem Inneren zu einem wahren Flächenbrand ausgeweitet hatte. Beharrlich hatte er um sie geworben, und die erste gemeinsame Nacht hatte ihm bewiesen, dass sich das Warten gelohnt hatte. Sergio hatte schon mit einigen Frauen geschlafen, aber das, was er mit Alex erlebt hatte, war unvergleichlich gewesen. Ihr aufgestautes Verlangenhatte sich wie bei einem Gewitter mit Blitz und Donner entladen, er hatte Dinge getan und mit sich tun lassen, an die er, der Altmodische, früher im Traum nicht gedacht und gegen die er sogar einen prüden Widerwillen empfunden hatte. Sie hatten sich bis zum Morgengrauen leidenschaftlich geliebt, und als sie erschöpft und keuchend aufgegeben hatten, da hatte Sergio gewusst, dass er sich tatsächlich in Alex verliebt hatte. Umso schlimmer war es gewesen, als er beim Aufwachen feststellen musste, dass sie einfach verschwunden war. Sie hatte genau das getan, was normalerweise er zu tun pflegte: Sie hatte mit ihm geschlafen und war gegangen, ohne zu fragen, ob und wann sie sich wiedersehen würden. Das hatte ihn tief gekränkt und gleichzeitig noch verrückter nach ihr gemacht. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Sergio nicht begreifen können, was in ihm vorging, aber er hatte an jenem Morgen beschlossen, dass er diese Frau um jeden Preis besitzen wollte. In den Wochen, die auf diese erste Nacht gefolgt waren, war er so glücklich gewesen wie nie zuvor in seinem Leben. Die Tage auf der Stella Maris und auf Cinnamon Island hatten ihn in der Erkenntnis bestärkt, dass Alex die Frau seines Lebens war. Von Nelson hatte er eine Bestätigung für die Richtigkeit seines Tuns erwartet, eine Art Segen, deshalb hatte er ihn auf seine Insel kommen lassen. Aber das, was Nelson ihm eben gesagt hatte, hatte ihn ernüchtert und seine Euphorie schlagartig zerstört. Plötzlich kam er sich vor wie ein sentimentaler Idiot, der sich von einer Frau hatte einwickeln lassen. Verärgert kippte Sergio den Whisky in einem Zug hinunter. Nelson hatte Recht. Er musste Alex auf Distanz halten. Privatleben und Geschäft hatten wahrhaftig nichts miteinander zu tun.
Mai 1999
Alex und Mark saßen auf einer Bank, ließen sich als Mittagessen Hühnchensandwichs von Bandi’s Deli schmecken und genossen die warmen Sonnenstrahlen der Maisonne im Battery Park an der Südspitze Manhattans, wie es viele Angestellte aus den Wolkenkratzern des Finanzdistrikts taten. Alex streckte die Beine aus, bewegte die Zehen in den bequemen Turnschuhen, die sie gegen die schicken Pumps getauscht hatte und sah zu, wie eine Horde Touristen an Bord einer der Circle-Line-Fähren ging, die zur Freiheitsstatue fuhren.
»Waren Sie auch schon mal auf der Freiheitsstatue, Mark?«, fragte sie.
»Na klar«, erwiderte er und nickte, »schon drei Mal.«
»Ich war noch nie da«, sagte Alex, »wie ist es?«
»Tja«, Mark kaute an seinem Sandwich, »man muss endlos Schlange stehen, dann gibt es nur einen Aufzug, in den maximal zwei Leute passen, oder man schiebt sich Schritt für Schritt die Treppe hinauf.«
»Oh Gott«, Alex winkte ab, »schon erledigt.«
»Meine Großmutter kam 1943 mit dem Schiff aus Europa, sie ist Jüdin«, sagte Mark, »der Anblick von Miss Liberty war für sie der Moment, als sie begriffen hat, dass sie den Nazis, dem Krieg und den zerbombten Städten wirklich entkommen und frei war. Sie hat mir und meinen Brüdern so viel davon erzählt, dass ich unbedingt einmal in meinem Leben auf die Freiheitsstatue wollte.«
Alex lag schon eine zynische Erwiderung auf der Zunge, aber sie schwieg, als sie die ehrliche Ergriffenheit Marks spürte, den sie nur als nüchternen und etwas langweiligen Menschen kannte.
»Die Freiheitsstatue ist ein Symbol unserer Demokratie«, fuhr er fort, »und
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