Unter Haien - Neuhaus, N: Unter Haien
vor Müdigkeit, er war furchtbar erschöpft, aber jetzt war keine Zeit zum Schlafen. Noch in der Nacht waren Lloyd Connors und Gordon Engels ins Krankenhaus gekommen, und man hatte sich darauf geeinigt, vorerst nichts von Alex’ Auftauchen bekannt zu geben. Es war Nick und Connors gelungen, Engels davon zu überzeugen, dass Tate Jenkins nicht auf ihrer Seite stand, und Gordon Engels hatte mit dem Stabschef des Präsidenten und dem Justizminister telefoniert. Sie beide hatten grünes Licht für eine neue Strategie gegeben, und die bestand darin, die Aufklärung der Bestechungsaffäre fortan ohne Beteiligung des FBI weiterzuführen. Connors hatte vor ein paar Tagen einen Privatdetektiv damit beauftragt, den Mann ausfindig zu machen, der im Jahre1963 Augenzeuge des Mordes gewesen war, den Sergio Vitali laut Aussage van Mierens begangen hatte. ›Ich will Vitali nicht nur ins Gefängnis bringen‹, hatte Connors gesagt, ›ich will ihn auf dem elektrischen Stuhl sitzen sehen.‹ Der Staatsanwalt war tief schockiert von der Brutalität, mit der Vitali Alex behandelt hatte. Die Milchglastür öffnete sich, und Dr. Virginia Summer, die Chefärztin der inneren Abteilung, trat heraus. In der Hand balancierte sie zwei Pappbecher mit heißem Kaffee. Nick kannte Ginnie Summer schon sehr lange. Ihr Mann war Seniorpartner einer sehr angesehenen Anwaltskanzlei, Nick hatte seinerzeit mit ihm zusammen an der New York University Law School in Manhattan Jura studiert. Fast genauso lange wie Bernard kannte er Ginnie, die eine Freundin von Mary gewesen war.
»Hallo, Ginnie«, sagte Nick, »wie geht es Alex?«
»Den Umständen entsprechend«, sie reichte ihm einen Becher mit Kaffee, den er dankbar entgegennahm, »sie hat Rippenbrüche, schlimme Prellungen und Blutergüsse, aber glücklicherweise keine lebensbedrohlichen inneren Verletzungen. Ein paar Tage Ruhe und eine gute medizinische Behandlung, dann wird sie die Sache körperlich bald überwunden haben.«
Die Ärztin warf ihm einen prüfenden Blick zu.
»Und du?«, fragte sie. »Wie geht es dir?«
Nick blickte sie an, dann zuckte er die Schultern und starrte wieder zum Fenster hinaus. Die Stadt, die er immer geliebt, für die er gelebt und gekämpft hatte, erschien ihm auf einmal feindlich. Er nahm einen Schluck von der heißen, starken Flüssigkeit, die seine Lebensgeister wieder weckte.
»Es geht mir ganz gut«, erwiderte er, »ich gewöhne mich allmählich daran, dass Mary nicht mehr da ist, wenn ich nach Hause komme.«
Er schluckte hart. War es Mary gegenüber unfair, dass er sich in Alex verliebt hatte? Wäre es auch geschehen, wenn sie nicht gestorben wäre?
»Du siehst sehr erschöpft aus«, stellte Ginnie Summer fest. »Fahr nach Hause und schlafe etwas. Mrs Sontheim ist bei uns in guten Händen.«
»Ich weiß«, Nick lächelte müde, »deshalb habe ich sie ja zu dir gebracht.«
Die Ärztin nickte.
»Du nimmst sehr stark Anteil an ihrem Schicksal«, sagte sie, »ist es wahr, was sie im Fernsehen von ihr sagen?«
»Nein«, Nick schüttelte den Kopf, »nein, davon ist nichts wahr.«
Er setzte sich schwerfällig auf einen der orangefarbenen Plastikstühle und die Ärztin nahm neben ihm Platz.
»Es ist für mich eine ganz neue Erfahrung, dass du so besorgt bist«, sagte Ginnie Summer, »und so mitfühlend.«
Nick wandte den Kopf und sah sie erstaunt an.
»Du hast dich verändert«, die Ärztin musterte ihn nachdenklich.
»Habe ich das?«
»Ja«, sie nickte, »seitdem ich dich kenne – und das sind nun beinahe 35 Jahre – warst du ein Egoist. Viele Männer, die Karriere machen wollen und ehrgeizig sind, sind Egoisten, aber bei dir war es mehr. Ich habe Mary nie darum beneidet, mit dir verheiratet zu sein.«
Nick seufzte.
»Trotzdem habe ich dich bewundert«, fuhr Ginnie Summer fort. »Du hattest Visionen, für die du mit aller Kraft gekämpft hast, und es ist dir immer gelungen, die Menschen für deine Ideen zu begeistern. Aber du warst manchmal geradezu ekelhaft selbstgerecht und rücksichtslos.«
»Das habe ich mittlerweile auch begriffen«, gab Nick zu. »Es ist nicht gut, wenn man nur schwarz und weiß sieht. Ich war zu kompromisslos und habe viele Fehler gemacht. Aber ich war immer so überzeugt davon, das Richtige zu tun, dass ich es nicht bemerkt habe.«
Er drehte den Kaffeebecher in seinen Händen.
»Und jetzt? Hat sich das geändert?«, fragte die Ärztin.
»Oh ja«, er nickte, »ich bin für meinen Hochmut schwer bestraft worden und ich werde
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