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Unter Korsaren verschollen

Unter Korsaren verschollen

Titel: Unter Korsaren verschollen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Legere
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schnell wieder gesund, wenn man ihn mal streichelte.
    Ganz langsam und zart. So etwa.« Die Mutter tut es.
    Dann bricht sie aus der Fülle um sie eine Blume: »Oder wenn man ihm eine Blume in die Hand legt, eine so schöne wie die.«
    Der Bub betrachtet die in sattem Rot schimmernde Blü-
    te, nimmt sie der Mutter aus der Hand, riecht daran, spielt mit ihr. »Ob ich mal zu ihm gehe?« kommt es dann. »Ihn streichle? Vielleicht wird er wirklich gesund!« Das anfängliche Zögern ist zur Begeisterung geworden. Ohne Antwort abzuwarten, rennt er davon bis zu den Büschen. Dort werden die Schritte langsamer.
    Verstohlen blickt er um die Stauden.
    Die Erwachsenen haben sich erhoben und folgen. Frau Marivaux hat sich bei dem Gatten eingehakt; sie braucht eine Stütze, einen Halt.
    »Guten Tag, Onkel. Ich habe dir ein Blümchen mitgebracht, damit du bald wieder ganz gesund sein wirst.
    Hier.« Claude hat schon wieder vergessen, daß der Kranke doch nichts bemerkt. »Ach ja, du weißt ja nichts, Onkel. Komm, ich gebe dir den Zweig in die Hand.«
    Zwei warme Kinderhände mühen sich, die Finger des Mannes um die Blume zu legen. Weiche, warme Kinderhände. Dann streichen zierliche Finger über die Hän-de des Kranken.
    Er zuckt zurück. Die Augen leben. »Livio!« Ganz leise kommt das Wort. Der Mann lächelt. »Livio!« Die Lider senken sich. Er schläft. Die Freunde haben trotz der Entfernung die Veränderung bemerkt.
    »Mama, er hat sich gefreut. Aber er kennt mich nicht.
    ,Livio!’ hat er gesagt«, plappert das Kind, als es zurückkommt. »Was ist Livio?«
    »Sogar gesprochen hat er?« De la Vigne ist erregt. »Er muß dich sehr liebhaben, Claude; denn mit mir hat er noch nie ein Wort gewechselt. Daß er dich nicht kennt, macht nichts, sicher werdet ihr später noch gute Freunde werden. Livio hat er gesagt? Das ist nicht französisch.
    Ich weiß nicht, was es bedeutet. Aber ich denke mir, es ist ein Name. Und zwar der Name eines kleinen Freundes dieses Mannes. Aber das wird uns der Kranke schon alles noch selber erzählen. Ich danke dir jedenfalls, daß du ihm eine solche Freude bereitet hast, und sobald ich Zeit habe, komme ich zu dir zum Spielen. Abgemacht?«
    »Fein, Onkel Roger! Und Vati muß auch mitspielen.«
    »Und ich?« fragt schelmisch die Mutter.
    »Du nicht. Du hast Angst vor Muscheln und Quallen.«
    Da es wichtig ist, daß de la Vigne den Kranken jetzt nicht aus den Augen läßt, verabschieden sich die Besucher schnell.
    »Gesiegt!« jubelt de la Vigne. Mit fast zärtlichen Blik-ken beobachtet er den schlafenden Mann.
    Plötzlich richtet sich der Kranke auf. Weitgeöffnete, suchende Augen. Die Arme sind vorgestreckt.
    »Livio, mein Sohn! Livio! Wo?! – Ach.« Er fällt zu-rück, stöhnt.
    Um de la Vigne ist Nacht. Verloren, was Sieg schien.
    Sekunden, Minuten verstreichen, dann springt der junge Franzose auf, beugt sich über den Unglücklichen.
    Warum tatest du es, Roger? Warum, warum?
    Vorwürfe werden zu unausstehlicher Qual. Verfluchter Gedanke, der zu diesem verwegenen Spiel ohne ärztli-chen Rat und fachmännische Hilfe verleitete. Aus dieser Zerstörung wird es kein Erwachen mehr geben. Das einzige Mittel ist falsch angewendet worden.
    Und das alles hast du, Roger de la Vigne, dem der Kranke anvertraut war, verschuldet! Womit kannst du dich rechtfertigen? Es gibt keinen Grund, der dein Verbrechen verzeihbar erscheinen lassen könnte. Leichtsinn, Fahrlässigkeit, jugendliches Stürmen und Drängen, Lust zu ungewöhnlichem Handeln, Verantwortungslo-sigkeit. Wie Peitschenhiebe prasseln die Vorwürfe auf den unglücklichen jungen Mann ein.
    Ich wollte retten, helfen, heilen!
    Schüchterne Versuche, das Gewissen zum Schweigen zu bringen.
    Noch immer ist er über den Kranken gebeugt. Noch immer blickt er dem Mann ins Antlitz. Er kann die Züge nicht klar erkennen, ist bis ins Innerste vom Scheitern seines Versuchs aufgewühlt.
    »Was nun, Herr de la Vigne?« fragt der Diener, der, nachdem die Gäste den Garten verlassen hatten, hinzu-getreten war.
    Die Frage verscheucht die schweren anklagenden Gedanken, zerreißt den roten, nebligen Schleier. Der Mann ist – Roger beugt sich noch um Zentimeter vor –, der Mann ist nicht bewußtlos, liegt nicht im alten starren Zustand. Er schläft!
    »Herr, mein Gott, er schläft!« Qual ist zum Jubel geworden.
    Dieses Gesicht lebt, ist nicht mehr starr, tot. Fortgewischt ist die steinerne Maske. Jetzt verziehen sich die Züge sogar zu einem matten kleinen Lächeln. Kurz

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