Unter Korsaren verschollen
nur, dann pressen sich die Lippen zusammen, als kämpfe der Schlafende Schmerz nieder.
Die ganze Nacht bleibt der junge Franzose am Kran-kenbett sitzen, läßt sich am anderen Tag im Büro entschuldigen. Der Kranke hat die Augen noch immer nicht geöffnet. Sein Geist arbeitet. Das Mienenspiel zeugt davon.
Nicht die kleinste Regung im Gesicht des Genesenden ist de la Vigne bisher entgangen. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist der Mann gerettet. Also doch gewonnen, gesiegt.
Die Spannung ebbt ab. Schlafen, schlafen. Der junge Mann sinkt zurück, peitscht sich sofort wieder hoch. Der Kranke darf nicht eine Minute unbeobachtet bleiben. Der Diener muß die Wache übernehmen.
»Wecke mich sofort, wenn sich etwas ändert«, schärft de la Vigne dem alten Franzosen ein. Augenblicke später ist er fest eingeschlafen.
Stunden verrinnen. De la Vigne übernimmt wieder die Wache. Der Kranke schläft fest.
Eine weitere Nacht. Soll man Nahrung einflößen? Aber der Mann kann, muß jeden Augenblick aufwachen. Besser, man stört ihn nicht. Man sagt, daß sich viele Menschen gesund schlafen. Werden Hunger und Durst zu stark, dann wird der Schlaf sowieso unterbrochen.
Gegen Morgen – der Diener wacht – murmelt der Kranke einige Worte auf italienisch.
»Herr de la Vigne, er spricht«, Roger ist im Augenblick hellwach.
Es sind unklare, unverständliche Worte, Pausen dazwischen; dann richtet sich der Kranke vom Lager hoch.
»Wo bin ich? Was ist mit mir?« Die Worte haben Klang, Farbe, sind den beiden Franzosen aber unverständlich.
»Parlez-vous francais, monsieur? Je ne puis pas com-prendre.«
»Ja. – Wo bin ich? Was ist mit mir?« wiederholt er in Französisch.
»Sie sind bei Freunden! Sorgen Sie sich nicht!« Blitzschnell überlegt de la Vigne. Jetzt vorstoßen, jetzt den Schleier zerreißen! Er ist sich der Gefahr bewußt, die darin liegen kann, daß die Besinnung auf sich selbst das ganze so glücklich verlaufene Werk zu vernichten vermag. Aber er stellt die Frage:
»Wir haben leider nicht die Ehre, Sie zu kennen. Wie ist Ihr Name?«
»Luigi Parvisi.«
»Aus Genua?«
Der junge Mann zittert vor Aufregung. Also ist es der Mann, von dem Onkel Xavier geschrieben hat!
»Gewiß, aus Genua. Aber woher wissen Sie das?«
»Das ist im Augenblick unwichtig. Ich freue mich jedenfalls, Sie nun beim Namen nennen zu können. Gestatten Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle: Roger de la Vigne aus Marseille, zur Zeit Angestellter der Korallenfischereigesellschaft in La Calle.«
»Sehr angenehm. – La Calle? Wie komme ich hierher?
Was ist mit mir, Herr de la Vigne?«
»Später davon. Sie waren sehr krank. – Sie werden hungrig und durstig sein. Was darf ich Ihnen bringen lassen?«
»Bitte machen Sie sich keine Umstände; ich will Ihnen nicht zur Last fallen.«
Der Diener eilt davon. Vorsorglich hatte man während der letzten Tage immer etwas bereitgestellt.
Während des Essens versucht Parvisi eine Unterhaltung mit dem Franzosen.
»Nicht sprechen jetzt«, wehrt de la Vigne ab. »Sie dürfen sich nicht anstrengen. Ich sagte schon, daß Sie sehr, sehr krank waren.«
»Ich fühle mich aber gar nicht danach. Nur müde bin ich.«
»Dann schlafen Sie weiter. Ich bleibe bei Ihnen. Machen Sie sich keinerlei Gedanken; Sie sind bei Freunden.
Wenn Ihre Kräfte es erlauben, werden wir morgen ein Stündchen plaudern. – Jetzt brauchen Sie vor allem Ru-he, Herr Parvisi.«
»Etwas werden Sie mir zu sagen nicht verbieten: Ich danke Ihnen.«
Luigi Parvisi ist gerettet.
Nur mit Mühe gelingt es den vereinten Vorstellungen de la Vignes, Marivaux’ und der Mutter Claudes, den jungen Mann von kopflosen Unternehmungen abzuhalten. Er wollte losstürmen und von den Machthabern Algeriens die Herausgabe der Frau und des Kindes erzwin-gen.
»Ich muß wissen, was mit Raffaela und Livio ist«, hält er ihnen Hunderte von Malen auf die sachlichen und beruhigenden Gründe entgegen. »Sie müssen, wenn das Schicksal ein wenig gütig war und ihnen das Leben ließ, aus den Fängen dieser Bestien befreit werden.«
Man versteht die jagenden Ängste des armen Vaters.
Dieses Verbrechen, Menschen in die Sklaverei zu führen, hundert-, tausendfach geübt in Jahrhunderten, darf nicht ohne Sühne bleiben. Aber wie soll es geschehen?
Parvisi allein? Einer gegen eine zwar zahlenmäßig kleine, aber dennoch festgefügte Macht? Unmöglich. Vielleicht weiß Pierre-Charles Rat und Hilfe.
»Warte ab, Luigi«, schlägt de la Vigne vor, »bis mein Vetter, ein
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