Unter Korsaren verschollen
ausgezeichneter Kenner der Verhältnisse der Regentschaft, von der Reise zurück ist.«
Eine harte und schwere Forderung, die die Freunde stellen. Sie ist berechtigt, ganz und gar; aber es ist bitter, untätig mit den Händen im Schoß warten zu müssen.
Wann kommt Herr de Vermont? Ein Achselzucken. Man weiß es nicht.
Ein Glück, daß der kleine stolze Claude die Freundschaft des neuen Onkels annimmt. O ja, Claude ist stolz.
Er ist es ja gewesen, der dem Kranken die Rettung gebracht hat. Die Rose, die er ihm damals in die Hand drückte – wißt ihr es noch? So einen guten Onkel gibt es überhaupt nicht mehr. Der kann alles malen – Claude meint zeichnen -: ein Pferd, ein Kamel, Häuser, im Wind sich biegende Palmen, mächtige Schiffe und kleine Fi-scherboote, das Meer, wenn es freundlich ist und wenn es grollt, Vati und Mutti und Claude. Claude ganz ge-nauso, wie er sich im Spiegel sieht: lachend oder wei-nend, mit zerzaustem Haar und schmutzigem Gesicht oder schön gekämmt und sauber gewaschen. Eben alles.
Und Onkel Luigi läßt ihn, Claude, auch selbst malen.
Die Bilder werden dann, wenn nicht noch schöner, so doch mindestens ebenso schön wie des Onkels eigene.
»Schaut doch bloß mal her! An meinem Kamel sieht man richtig, was für mächtig lange Beine es hat, wie es gleich davonfegen wird.«
Betäubung des Schmerzes sind diese Stunden mit dem Kind, zugleich aber Stunden, in denen die gräßliche Wunde des Verlustes seiner Lieben erneut aufbricht.
Parvisi hat inzwischen von dem Geschehen in der Heimat erfahren. Noch ist keine unmittelbare Nachricht von Genua eingegangen. Xavier de Vermonts Berichte an Sohn und Neffen gaben ein Bild der Verwirrung, die die Botschaft ausgelöst hatte, und von den Verbrechen Gravellis.
Fest steht, daß der junge Italiener nicht eher in die Heimat zurückkehren wird, bis er genaue Einzelheiten über seine Angehörigen und andere Überlebende der »Astra«
erhalten hat. -
Pierre-Charles de Vermont ist wieder in La Calle eingetroffen. Lange, schmerzlich lange hatte man diesmal auf ihn warten müssen. Er war bis in die Wüste vorgestoßen, hatte neue Bekanntschaften angeknüpft, die es ihm er-möglichten, bisher noch nicht bereiste Gebiete kennen-zulernen. Der Schiffbrüchige befand sich in der Pflege Rogers. Obendrein war unbestimmt, ob es eine Rettung überhaupt gab. Inzwischen war der Winter hereingebrochen. Die sonst ausgetrockneten Wadi waren zu reißenden Flüssen angeschwollen. Sie nun zu durchqueren, wäre mit Lebensgefahr verbunden gewesen. Die ungeheuren Wassermassen, die während der Wintermonate herabrauschten, hatten Weg und Steg unbegehbar gemacht. Auf den Gipfeln der Atlasketten lag Schnee. Pierre-Charles mußte warten. -
Der Rückkehrende betritt das Haus in dem Augenblick, in dem der Vetter vom Kontor kommt. Parvisi ist nicht da. Sicherlich sitzt er irgendwo am Hafen und zeichnet.
Sein Skizzenbuch ist eine zeichnerische Beschreibung der kleinen Stadt. Jedes wichtige Gebäude, die Kirche, das Regierungshaus, Magazine und jeder verträumte Winkel sind bereits mehrfach von Luigis Stift festgehal-ten.
Mit fliegenden Worten berichtet de la Vigne von der Genesung Parvisis und den Sorgen des Mannes.
»Und hier ist auch Post aus Marseille. Ich habe sie eben im Hafen empfangen«, schließt er.
»Wollen schnell überfliegen, was es Neues in der Heimat gibt.«
Das übliche: Geschäftliche Anweisungen – geht Roger an; Familiengeschichte – für beide bestimmt; Auszüge aus alten Geschichtswerken – betrifft Pierre-Charles; politische Lage in Frankreich – wieder für beide; Angelegenheit Parvisi – darüber muß man mit dem Italiener sprechen. Da noch eine versiegelte Einlage. Empfänger: Signore Luigi Parvisi im Hause de Vermont, La Calle.
»Wir werden alles später eingehend durchsehen und wenn möglich sofort erledigen«, bestimmt Pierre-Charles. »Jetzt muß ich erst einmal aus den Lumpen heraus, mich erfrischen, wieder Europäer werden. Ein richtiges Bad, mehr wünsche ich im Augenblick nicht.«
Erst am späten Abend kehrt Parvisi zurück. Claudes Eltern hatten ihn zum Abendessen eingeladen. Komische Sache das. Es ist wirklich Freundschaft, daß er gleich mit zulangen soll, und doch, wenn man keinen Sou in der Tasche hat, fühlt man sich immer wie ein Bettler, ohne daß man bettelt. Oft war es in der letzten Zeit so gewesen. Claude ist sein ständiger Begleiter. Der Junge muß bis ans Haus zurückgebracht werden. Madame Marivaux sitzt meistens
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