Unter Korsaren verschollen
das Abenteuerliche machten den jungen Franzosen bald zum ausgezeichneten Kenner von Land und Leuten und der Mut, der ihn oftmals bis an die Grenze der Tollkühnheit führ-te, zu einem hervorragenden Jäger.
Noch aber ist dieser Abenteurer und Wissenschaftler stumm. Nichts treibt ihn, seine Forschungsergebnisse sofort in klingende Münze umzusetzen. Er forscht aus Liebhaberei, ohne Auftrag, unabhängig von der Zeit. Es ist gänzlich gleichgültig, wann und ob er sich überhaupt einmal hinsetzen wird, um die Tausende von Notizen und die ungelenken Skizzen von Überresten römischer Baukunst zu sichten und zu einem geordneten Ganzen zusammenzufügen. Im übrigen gibt es sicherlich noch manchen Schleier zu lüften, bis man zu einem abgerun-deten Bild über diesen alten Kulturboden kommen wird.
Gerade jetzt, nach halbjährigem Aufenthalt in der Heimat, droht die Jagdleidenschaft die Fesseln zu sprengen, die ihr in Frankreich angelegt werden mußten. Aber bald wird man wieder mit den Eingeborenen zusammen sitzen, zusammen leben wie einer von ihnen. Pierre-Charles de Vermont ist gut Freund mit allen. In jedem Haus und Zelt bietet man El-Fransi eine Handvoll Datteln als Willkomm. Daß er wohlgelitten bei Arabern und Negern, Mauren, Kabylen und Berbern ist, bestätigt der Name, den man ihm gab: El-Fransi, der Fremde, der Franzose. Wie oft hat dieses kühnen Jägers sichere Hand die Eingeborenen vor Raubtieren geschützt, wie oft war er Vorbild für sie, ihm nachzueifern und selbst gegen den auf leisen Sohlen anschleichenden Feind anzugehen!
Bis an den Rand der Sahara ist er bereits vorgedrungen, weiter als mancher andere Forscher, allein deswegen, weil man in ihm keinen solchen vermutet. Er schreibt nie
– so glauben die Menschen – etwas auf, quält sie nicht mit Fragen nach der Vergangenheit des Landes, nach Weg und Steg, den Bodenschätzen, ihren Lebensge-wohnheiten und all dem, womit die Reisenden sonst Argwohn, Furcht und Rache wecken. Im allgemeinen gilt El-Fransi sogar als wortkarg. Er läßt seine Gastgeber erzählen und erfährt so vieles, was, gesammelt und gesichtet, ein wirkliches Bild der Zustände ergibt.
Niemals sagt El-Fransi ein Wort gegen die Türken, die fremden Herren, die, klein an Zahl, eine dünne, aber rücksichtslose Oberschicht, das riesige Gebiet, dessen Grenzen in der Wüste verlaufen, beherrschen. Die Berber und Kabylen verschlossen ihren Zorn auf die Türken vor dem Jäger nicht. Niemals wird El-Fransi etwas tun, was ihnen, den Unterjochten, zum Verhängnis würde.
Vor ihm kann man frei und offen sprechen; über seine Lippen wird nichts von dem Gehörten dringen. So denken die Eingeborenen von Pierre-Charles. Er wird sie niemals enttäuschen, kann ihnen aber auch nicht helfen.
Verschiedentlich wurden die Waffen gegen die Fremden erhoben. Aber die Macht des Deys und seiner Janitscharen war nicht zu brechen; denn die Bewohner Algeriens sind kein einiges Volk. Die Stämme, die Völkerschaften und Rassen finden nicht zueinander, zermürben sich in Familienfehden, Stammeskämpfen – zur Freude der kleinen Schar Türken, die unschwer zu beseitigen wäre, wenn es gelänge, diese mutigen und krieggewohnten Dorfschaften und Stämme zu einigen, zu führen und zu lenken gegen die paar Tausend Türken.
De Vermont weiß, daß die Kabylen des Dschurdschu-ragebirges, die Berber des Atlas und die Araber der Ebenen und der Wüste nichts mit der Seeräuberei zu tun haben, die allein Sache der Türken ist, zu der man lediglich die Eingeborenen verleitet oder preßt. -
»Mein Vetter, Herr de la Vigne, wird sich des Kranken annehmen, sollten mich meine Geschäfte zwingen, vor seiner vollständigen Genesung abzureisen«, versichert de Vermont dem Arzt.
»Dann bin ich einverstanden. Ich werde, während die Fregatte im Hafen liegt, täglich nach Ihrem Schützling sehen.«
»… und nun ist er eben bei mir«, hat Pierre-Charles seinen Bericht geschlossen. »Ich habe zwei Wochen gewartet, ehe ich das Schreiben absandte, hoffend, daß der Zustand des Fremden sich bessern werde. Ein kleiner Fortschritt ist eingetreten: Der Mann hat das Krankenlager bereits verlassen, aber das ist auch alles. Das Erinnerungsvermögen ist nicht zurückgekehrt.«
Auch jetzt beim zweiten Lesen des Briefes zittern Xavier de Vermont die Hände. Der Schiffbrüchige kann kein anderer sein als der Sohn seines Freundes Parvisi.
Der Kaufmann rechnet nach: die Ausreise der »Astra«
aus Genua, die erwartete Ankunft des unglücklichen
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