Unter Korsaren verschollen
das Kostbarste im Leben dieser beiden Menschen. Für den Jungen sind sie zu jedem Opfer bereit. Er soll unbeschwert und glücklich leben können.
Das Kind! Die Zeichnung mit dem Kinderkopf! De la Vigne, der sich weit in den Sessel zurückgelehnt und dem munteren Plaudern der Frau seines Freundes ge-lauscht hat, richtet sich plötzlich steil auf, setzt das Glas, aus dem er trinken wollte, unbenutzt zurück.
Verwundert blicken die Freunde auf ihn. Mit einer Handbewegung, die »Nichts, nichts!« bedeutet, beruhigt er sie. Ein Gedanke nur. Er bemüht sich sofort, wieder an der leichten und beschwingten Unterhaltung teilzunehmen. Den Mann kann er damit täuschen, die Frau aber spürt, daß sich der Gast zwingt.
Und immer wieder zwischen den Worten: das Kind, das Kind! Zusammennehmen, Roger! Nicht mit deinen rasenden, sich jagenden Gedanken diesen schönen Abend stören! Aber es ist sowieso Zeit, die Feier zu beenden.
De la Vigne stürzt davon. Im Laufschritt geht es dem Landhaus zu. Ein scharfer Wind bläst vom Meer her, wirbelt Staubwolken auf. Bald werden die Atlasketten Schneekappen aufsetzen. Der Herbst hat sich angekündigt.
Wo ist die alte Hose, die der Kranke anhatte, als man ihn aus dem Wasser zog? Da, zwischen alten Kleidungsstücken hängt sie. In der linken Tasche befand sich die Zeichnung. – Leer.
Hat Pierre-Charles das Blatt dem Brief an den Onkel beigelegt? De la Vigne denkt scharf nach. Nein. Er gab ihm das Schreiben zum Lesen, hat es vor seinen Augen versiegelt. Die Skizze lag nicht bei. Wenn sie nicht vernichtet wurde – Roger atmet schnell und stoßweise bei diesem Gedanken –, muß sie sich unter den Papieren des Vetters befinden. Fieberhaft sucht der junge Mann.
Glücklicherweise hat er den Schlüssel zu Pierre-Charles’
Schreibtischfächern. Endlich. Er atmet tief auf. Von der Zeichnung ist kaum noch etwas zu erkennen. Das Wetter hat die Striche ausgebleicht. Aber ein Kinderköpfchen ist es doch noch.
Liegt hier die Rettung für den Kranken? Vermag dieses Stückchen Papier zum Seil zu werden, an dem sich der Unglückliche aus dem nächtlichen Dunkel zum Licht emporziehen kann?
Fest glaubt Roger de la Vigne daran.
Als er am anderen Tag dem Mann Stift und Papier in den Schoß legt, gespannt, fiebernd eine Wirkung erwartet, muß er enttäuscht feststellen, daß nichts geschieht.
Warum nicht? Ein totes Ding soll ein Wunder bewirken? Unmöglich. Und doch muß durch das Kind an dem Zustand zu rütteln sein.
Ob man es einmal mit Claude versucht? Ein betörender Gedanke.
Die Unterredung mit den Eltern des Jungen dauert lange. Für und Wider werden eingehend geprüft. Gut, man wird demnächst zu einem Besuch kommen.
Roger de la Vigne hat an dem für den Besuch vorgese-henen Tag wenig Aufmerksamkeit für seine berufliche Arbeit. Immer wieder schweifen seine Gedanken von Briefen und Zahlen ab und hinaus in das Landhaus.
Wird der Versuch gelingen? Auch jetzt, als er das Haus betritt, peinigt ihn diese Frage. Die Freunde werden noch etwas auf sich warten lassen. Furchtbares Warten. Fragen türmen sich quälend auf: Darf ein solcher Versuch überhaupt unternommen werden? Welche Wirkung wird er haben?
Gräßliche Zweifel! Soll nicht doch der Arzt entscheiden? Die Natur hilft sich selbst, wenn überhaupt Hilfe möglich ist, hat er, gleich nachdem ihm die Betreuung des Kranken durch den Schiffsarzt übertragen worden war, geraten.
Der junge Franzose wird zwischen Hoffnung und Zweifel wie ein Schiff auf stürmischem Ozean hin und her gestoßen. Dazu kommen noch die schweren Bedenken, daß dem Kind etwas geschehen könnte.
Aber man muß handeln. Die Natur greift nicht ein. Sie läßt den Zustand in der Schwebe.
Die drängende Jugend behält endlich die Oberhand.
Der Versuch wird gewagt werden, komme, was wolle!
Claude ist nicht eingeweiht. Man sitzt so zusammen wie kürzlich. Diesmal ist Frau Marivaux mitgekommen.
»Der Onkel liegt wieder in dem Stuhl hinter den Sträu-chern, Claude«, beginnt nach einer Weile de la Vigne ein Gespräch mit dem Kind.
»Ach, der Onkel, von dem mir Claude erzählt hat? –
Willst du ihn nicht mal besuchen?« wendet sich die Mutter an den Buben.
»Aber er kümmert sich ja gar nicht um mich, Mama!«
»Er ist eben sehr krank. Er weiß gar nicht, was um ihn herum geschieht. Er bemerkt weder die Vögel noch die Menschen und Bäume und Blumen, gar nichts«, wirft Roger ein.
»Das ist aber schlimm, nicht wahr?«
»Ja, Claude. Vielleicht würde er gesund werden,
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