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Unter Korsaren verschollen

Unter Korsaren verschollen

Titel: Unter Korsaren verschollen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Legere
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aber nicht gesehen.
    Ali, der immer zapplig wird, wenn er eine Felswand sieht, die er noch nicht bezwungen hat, ist froh, daß nicht sechs Hände um die kleine Falle beschäftigt sein können; denn die Mauer vor ihm hat er trotz verschiedentlicher Versuche noch nie erklommen. Vielleicht gelingt es jetzt, während die beiden beschäftigt sind. Und schon fängt er an zu steigen.
    Höher und höher geht es. Bald sieht der behende Uxeire die Kameraden ganz winzig klein zu seinen Füßen. Wie komisch. Sie erscheinen von diesem luftigen Platz aus wie an den Erdboden gedrückt, krabbeln wie Ameisen umher, als wollten sie in die Erde hineinkriechen. Daß sie nicht mal hochblicken! »Achmed – Omar!«
    Die Angerufenen, die nicht bemerkt haben, wie er sich entfernte, heben die Köpfe. Jetzt suchen sie ihn.
    Der Steilhang liegt im vollen Sonnenlicht. Es ist schwer, an diesem gleißenden Schiefer einen Menschen zu entdecken.
    Sie finden ihn nicht.
    Nochmals der Ruf, freudig bewegt; denn Ali ist stolz auf seine Leistung. Eigentlich ging es viel leichter, als er dachte.
    Immer noch sehen ihn die Freunde nicht.
    Ich muß mich bewegen, denkt Ali. Und schon schlenkert er mit den Armen auf dem schmalen Sims.
    »Dort oben! So ein toller Kerl!« Omar hat ihn entdeckt und zeigt Achmed die Richtung. Ja – aber – wo ist er denn?
    Ein Hilferuf, markerschütternd, gräßlich, hallt von den Wänden wider.
    Ali ist abgestürzt.
    Steine poltern in die Tiefe, Staubwolken wirbeln auf.
    Omar preßt die Fäuste vor die Augen. Nichts sehen von dem Furchtbaren!
    Jetzt – jetzt muß der Körper des unglücklichen Freundes drüben, wenige Meter vor ihm, am Fuß der Steil-wand aufschlagen. Das Gehör ist zum Bersten angestrengt. Wann endlich wird diese Qual, dieses tötende Warten zu Ende sein?
    Ein letzter Schlag. Schwer, massig. »Ali…?«
    Dann Ruhe. Die Ruhe des Todes.
    Armer Ali, armer, lieber Freund.
    Die Fäuste öffnen sich. Durch die Finger blickt Omar furchtsam hinüber zu den senkrecht emporstrebenden Felsen.
    Staub zieht an der Unglückswand empor, verflüchtigt sich. Nun ist die Sicht wieder frei. Wie vor wenigen Minuten liegt alles ruhig und unbewegt da. Und doch ist die Hand des Todes darüber gefahren.
    Zwischen der Geröllhalde am Fuß der Mauer kein wei-
    ßer Gegenstand, kein Hemd, das Ali gehören müßte. Wo ist der Freund? »Wo ist Ali?« Der Schrei Omars reißt Achmed aus der Starre. »Ali, Ali!« Zwei Knabenstim-men, von Angst gefoltert, schreien den Namen hinein in die Wand. »Ali – Ali…!« kommt der Ruf vielfältig zu-rück.
    Achmed schließt die Augen. Noch immer ruft es: »Ali, Ali…«. Aber ist da nicht etwas anderes dazwischen? Er fordert Omar mit erhobenem Zeigefinger auf, ganz still zu sein und zu lauschen.
    Natürlich, da ist es, leise, kaum vernehmbar: »Achmed
    – Omar!« Der Freund ruft.
    »Er lebt, Achmed! Er lebt! – Aber wo ist er?«
    »Wir müssen suchen. Sofort!«
    »Ali, wo bist du?«
    Omar erhält keine Antwort.
    Suchen. An dieser Wand? Schon der Gedanke, etwa dort hinauf zu müssen, macht Omar zittern. Er hat manches von Ali gelernt. Gelernt schon, ob aber seine Kräfte ausreichen?
    Zuerst muß einer ins Dorf, Hilfe holen.
    Der kleine Neger ist sofort bereit dazu. Er weiß, daß der Freund bei solcher Hitze nicht lange rennen kann, und bis zu den ersten Hütten ist es sehr weit.
    »Ja, Achmed, lauf ins Dorf; lauf, so schnell du kannst, und hole Leute und Stricke. Aber schnell, schnell. Ich werde inzwischen versuchen, Ali zu finden.«
    »Du willst hinaufsteigen?« Entgeistert blickt Achmed zur Felswand, zu Omar.
    »Natürlich. Mach schon! Fort mit dir! Vielleicht ist er schwer verletzt!« Wie von einem grimmen Raubtier verfolgt, jagt der Neger davon. Er bietet alle Kräfte auf, um dem Freund Hilfe zu bringen.
    Omar steht ganz klein, zusammengesunken, verzagt vor der Mauer.
    Es graust ihn, als er den Hang jetzt genau von unten, von links, von rechts betrachtet. Hinaufkommen kann man, das steht fest; aber ob ein solches Kunststück dem Lehrling gelingt? Wird es nicht zu einem weiteren Un-glück führen?
    Der Freund ist in Gefahr, braucht Hilfe!
    Wie ein riesiger Wasserfall donnern diese Worte auf Omar ein. Die Welt besteht in diesem Augenblick aus nichts anderem als diesem Ruf. Und dort die Wand.
    Senkrecht, gefährlich.
    Aber die Hände finden einen Halt, die Füße eine Kante, einen Zacken, um für wenige Augenblicke den Körper tragen zu können. Der Freund ist in Gefahr!
    Vorwärts, vorwärts.

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