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Unter Tage

Unter Tage

Titel: Unter Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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Seeluft.
    »Erstaunlich!« bemerkte Rescor interessiert.
    Matuschek antwortete nicht. Bleiern und kraftlos saß er in dem gepolsterten Drehsessel; über Oberschenkel, Taille und Brust lagen fingerbreite Kunststoffgurte, und kühle, blechern glitzernde Elektroden klebten an der Stirn. Nur undeutlich vernahm Matuschek das tiefe Brummen des Diagnosters; einem riesigen Metall- und Plastikungetüm, das seine Reaktionen elektronisch genau überwachte.
    Der Fleck verschwand, machte einem neuen Platz.
    »Was sehen Sie?« fragte Rescor wieder.
    Wie oft? dachte Matuschek betäubt. Fünfzig- oder hundert- oder tausendmal? Wo war die Zeit geblieben? Und – was hatte man mit ihm vor? Warum diese Untersuchung?
    »Was sehen Sie?« Die Geduld des Analytikers schien unerschöpflich.
    Der Klecks an der Wand wirkte auf nicht erklärbare Art grazil und heiter, und Matuschek unterdrückte das aufkommende, nervöse Kichern in der Kehle, befeuchtete die spröden Lippen, schluckte Speichel auf die rauhen Stimmbänder.
    »Ein Vogel!« entschied Matuschek. »Ein Vogel! Geschmeidiges Federkleid, breite, weiße Schwingen, in der Ferne vor der sinkenden Sonnenscheibe. Ein Vogel, der mit den Winden treibt.«
    Für eine Weile herrschte Schweigen. Matuschek hörte, wie sein Herz heftig pochte.
    »Ich denke, wir wissen genug«, bemerkte Tribeau ungeduldig. Er blickte sich auffordernd um. »Oder ist sich einer von Ihnen noch nicht schlüssig?«
    Persson, Hellmann und Kleijinken schüttelten beflissen die graubehaarten Köpfe, sahen zu Rescor, warteten auf seine Zustimmung.
    Der Chefanalytiker rieb leicht mit den Fingerspitzen über seine Augenbrauen. Eine Geste, die Matuschek schon oft bei ihm beobachtet hatte. Sie wirkte affektiert, gekünstelt und sollte nur Rescors allumfassende Gefühllosigkeit verbergen, die die Linien in seinem Gesicht wächsern und puppenhaft erscheinen ließ.
    »Der Fluchtgedanke«, fuhr Tribeau eifrig fort, »ist meines Erachtens zur beherrschenden Neurose geworden und beeinflußt bereits das Abwehrsystem des Unterbewußtseins. Geradezu ideal, würde ich sagen! Geradezu ideal!«
    Rescor erhob sich, ging zum Diagnoster und legte einige Schalter um.
    Klack! machte es in Matuschek. Klack! Klack! Klack! Die Betäubung in seinem Schädel verschwand.
    Rescor griff in die ausgebeulte Tasche seiner seidigen, grasgrünen Kunststoffmontur und brachte eine Packung Zigaretten zum Vorschein. »Würden Sie nur sagen, daß der Patient Matuschek geradezu ideal ist, oder sagen Sie es tatsächlich, Doktor Tribeau?« fragte er ironisch.
    Tribeau wurde rot. Mit einer seltsamen Klarheit konnte Matuschek den Weg des Blutstroms verfolgen, der die winzigen Äderchen in den Wangen aufpumpte, so daß sie prall und fett das Weiß der Haut bedeckten. Tribeau hustete. »Der Patient ist ideal!« verbesserte er sich entschuldigend.
    Rescor nickte, schürzte amüsiert die Lippen. »Das Problem unserer Zeit«, philosophierte er spitz, »ist die zunehmende Verwässerung der wissenschaftlich exakten Ausdrucksweise. Präzision, Doktor Tribeau! Nur mit Präzision ist es möglich, Staat, Gesellschaft und Individuum zu kontrollieren und in der einzig richtigen Weise fortzuentwickeln.« Nachdenklich sog er an seiner Zigarette, blies eine zittrige Wolke gegen die Decke. »Erinnern wir uns doch! Das noch vor zehn Jahren herrschende politische und moralische Chaos beweist wohl deutlich die Richtigkeit dieses Gedankenganges!«
    »Natürlich, Doktor Rescor!« beeilte sich Tribeau zu versichern. »Verzeihen Sie!« Er senkte den Kopf.
    Rescor winkte ab. Er wandte sich Matuschek zu. »Die Analyse ist abgeschlossen«, eröffnete er übergangslos dem gefesselt dasitzenden Mann. »In Verbindung mit Ihrem bisherigen kriminellen Werdegang, Ihrem antistaatlichen und antisozialen Verhalten ergibt sich eine klare, zweifelsfreie und endgültige Diagnose.«
    »Doktor Persson!« Der kleine, zartgliedrige Psychologe mit den grotesk großen Ohrmuscheln erhob sich hastig. »Doktor Persson, Sie beginnen!«
    Persson räusperte sich, machte den Ansatz einer unbeholfenen Verbeugung. »Kriminelle Neigungen sind bei dem Patienten Matuschek schon in früher Jugend zu registrieren. Laut Auskunft der Nationalen Datenbank verbüßte er im Alter von neunzehn Jahren eine vierwöchige Haftstrafe für ein Vergehen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Nach der Umwälzung und der sich daran anschließenden Konsolidierung der Staatenunion verstieß der Patient wiederholt vorsätzlich gegen die

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