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Unter Tage

Unter Tage

Titel: Unter Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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wie bisher um jährlich dreißig Prozent zunimmt? Wie man acht Millionen Bürger von akuten Psychosen heilen und darüber hinaus mindestens zwanzig Millionen vor seelischen Zusammenbrüchen bewahren kann?«
    »Wir verlangen keine Heilung, wir verlangen nur loyales Verhalten. Uns interessiert nicht, ob jemand gesund oder krank ist, uns interessiert, ob er funktioniert. «
    »Ich verstehe.«
     
    *
     
    In der Zelle war es still. Soweit Matuschek wußte, war es in jeder Zelle des Geschlossenen Traktes still. Man hörte nichts. Niemals einen Laut. Und selbst das Pochen des Herzens erreichte nicht die Ohren, sondern wurde verschluckt, irgendwo in Schulterhöhe absorbiert, oder am Kinn, der Unterlippe, der zittrigen Nasenspitze.
    Alle vier Stunden öffnete sich über dem niedrigen, quadratischen Tisch, der neben dem Spülstein stand, die weißgestrichene Kunststoffklappe und rülpste ein Pappschälchen mit Nährbrei vor den allzeit bereit liegenden Hartgummilöffel.
    Der Nährbrei schmeckte schlecht, nach Staub und verbrauchter Luft, Tabakdunst und Rotz. Niemand mochte ihn. Auch Matuschek nicht. Aber man mußte ihn essen. Bissen für Bissen, einen Löffel grünen Schleims nach dem anderen auf den widerstrebenden Gaumen schmieren. Man mußte das Schälchen auskratzen, mit der Zungenspitze den Boden sauberlecken und jeden achtlos verspritzten Breitropfen aufschlürfen.
    Zu Beginn hatte sich Matuschek geweigert, und die Pfleger und Sicherheitsbeamten schnallten ihn auf seinem Bett fest, bohrten einen durchsichtigen Schlauch in seine Vene und ließen ihn allein. Matuschek wartete bewegungslos und verängstigt, wartete und dachte und sah den perligen Tropfen zu, die in seinen Arm hineinkullerten. Er begann die Tropfen zu zählen, atmete im Rhythmus ihrer Bewegungen, er zählte und atmete und grübelte, bis auch seine Gedanken nur kleine Tropfen waren, die eine unsichtbare Kanüle in seine Gehirnwindungen hineinpreßte.
    Matuschek summte ein Lied. Die Melodie war falsch und holprig, seine Stimme rauh und schief, aber das spielte keine Rolle. Matuschek summte, und es tat gut.
    We shall overcome …
    Die Tür öffnete sich. »Diese Melodie steht auf dem Index«, erläuterte Doktor Rescor. Sein kahles Wachsgesicht lebte nur durch die Bewegungen der Pupillen.
    »Das ist mir gleichgültig«, entgegnete Matuschek ruhig.
    »Aber Sie wissen, daß jede Ihrer Tätigkeiten und Reaktionen aufgezeichnet wird und als belastendes Material bei der Urteilsverkündung des Regionalgerichtes herangezogen werden kann!«
    »Ja, das ist mir bekannt.«
    Rescor schüttelte den Kopf. »Sie brauchen nicht zu hoffen, daß man Ihre Krankheit als mildernden Umstand wertet.«
    »Ich bin nicht krank!« widersprach Matuschek.
    »Ein Irrtum!«
    »Ich bin gesund!«
    »Eine Lüge!«
    »Sie, Doktor, Rescor, Sie sind krank!«
    »Eine Verleumdung!« Rescor stemmte die Arme in die Hüften und starrte Matuschek kalt und ohne sichtbare Empörung an. »Was versprechen Sie sich davon?«
    »Nichts«, murmelte Matuschek. »Nein, nichts.«
    »Warum behaupten Sie es dann?«
    »Weil es so ist!«
    »Eine Wahnvorstellung!«
    Matuschek schwieg.
    Rescor ließ sich ächzend auf den lehnenlosen Stuhl vor dem Eßtisch nieder, beobachtete Matuschek. »Wieviel Jahre Arbeitslager erwarten Sie?«
    »Ich habe keine Erwartungen.« Matuschek suchte mit den Augen die kahle Wand ab. Kein Lichtfleck? wunderte er sich. Keine Fragen?
    »Hoffnungen? Wünsche?«
    »Nein.«
    »Angst?«
    Matuschek preßte die Lippen aufeinander.
    Rescor entzündete befriedigt eine Zigarette. Wie ein Vulkankrater kurz vor der Eruption dampfte sein Mund blauschwarze Rauchschwaden aus. »Selbstverständlich haben Sie Angst, Matuschek. Sie müssen Angst haben! Sie kennen die Arbeitslager, die Verhältnisse, die dort herrschen, die Gewalt, den Schmerz, die Verzweiflung. Zwanzig Jahre sind die Höchststrafe, Matuschek. Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Niemand überlebt sie.«
    »Was wollen Sie von mir?« fragte Matuschek zornig. »Bereitet es Ihnen Freude, andere Menschen zu quälen?«
    Rescor klopfte die Asche auf den Boden, verrieb sie mit den Sohlen seiner flachen Schuhe, bis nur noch ein verschwommener, grauer Schleier das kalkige Weiß des Kunststoffbelages beschmutzte.
    »Nein, ich erfülle nur meine Pflicht! Nur meine Pflicht, Matuschek!«
    »Was wollen Sie dann? Reden Sie schon! Oder lassen Sie mich allein!«
    »Wir planen ein Experiment!« sagte Rescor.
    »Ein Experiment?«
    »Ein Experiment. Vielleicht hilft

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