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Unter Tage

Unter Tage

Titel: Unter Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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bürgerlichen Grundpflichten. Er lehnte sich gegen das Wirtschaftsförderungsgesetz auf, indem er seine Arbeitskollegen dazu verführte, einen illegalen Streik gegen ein Zweigwerk des Chemiekonzerns EUROpharma zu beginnen.
    Er protestierte öffentlich gegen das notwendige Städtesanierungsprogramm und behauptete fälschlicherweise, dadurch würde sich die Lebensqualität der Bevölkerung verringern.
    Er beschimpfte den Neuen Staat als ausbeuterisch, diktatorisch und – wörtlich – als ›Privateigentum einer Clique habgieriger und korrumpierter Politiker und ihrer Komplizen aus Industrie und Militär‹.
    Für diese staatsschädigenden, moralzersetzenden Verleumdungen wurde der Patient von einem Sondergericht der Zentralregion zu einem Jahr Arbeitsdienst verurteilt. Anschließend wies man ihn zu einer sozialstabilisierenden Behandlung in das Institut für Psychoforschung ein. Nach seiner Entlassung wohnte er mehrere Monate in Brüssel und nahm Kontakt mit einer Gruppe notorischer Unruhestifter auf, deren Einfluß er mehr und mehr erlag.
    Bei einer terroristischen Aktion gegen eine geheime militärische Versuchsanlage der Nationalmiliz wurde er von den Sicherheitskräften überwältigt und zwecks einer Persönlichkeitsanalyse hier in unserem Institut inhaftiert.« Persson befeuchtete seine vor Trockenheit runzlig- und rissiggeschrumpfte Unterlippe. »Die Analyse bewies, daß die kriminellen Energien des Patienten Matuschek auf einen psychischen Defekt zurückzuführen sind. Der Patient Matuschek besitzt ein neurotisches Unabhängigkeitsbedürfnis, das sich im Laufe seines Lebens zu einer paranoischen Flucht vor der Realität entwickelt hat. Die Fürsorge und das Bestreben des Staates, für alle Bürger Sicherheit, Ruhe und Ordnung zu garantieren, negiert der Patient zu einer allgegenwärtigen Bedrohung seiner Person.
    Psychisch flieht der Patient Matuschek vor der Realität in einen monströsen Verfolgungswahn, sozial in die Illegalität krimineller und antistaatlicher Gewaltakte.« Persson lächelte fein. »Eine Heilung erscheint mir in diesem fortgeschrittenen Stadium ausgeschlossen!«
    Matuschek schwieg. Eine lethargische Erschöpfung verlangsamte seine Gedanken und hinderte ihn, seiner Empörung Luft zu machen. Die Schlußfolgerungen dieses gnomenhaften Mannes beruhten auf einem bizarren Psychologieverständnis.
    Natürlich litt er an Paranoia, aber – war dies nicht logisch in einem Land, dessen Bewohner von einer allessehenden, alleshörenden, alleswissenden Medusa, einem myriadenköpfigen Kontrollapparat bespitzelt wurden? In einem Land, dessen Medien Lügen predigten und die Wahrheit manipulierten, Mißstände verschwiegen und jeden Widerstand gegen das diktatorische Regime kriminalisierten? Wo die Gerichte nicht Recht sprachen, sondern Richtlinien für das geistige Verhalten erteilten? Wo Psychologie, Soziologie und Philosophie im Dienste legalisierten Mordes und institutionalisierten Terrors standen? In einem Land, wo viele gehorchen mußten und nichts besaßen, aber wenige befahlen und über alles verfügten?
    Ruhe und Ordnung – natürlich empfand er diese beiden Dinge als persönliche Bedrohung! Doch – war dies tatsächlich krankhaft, wenn Ruhe Unterdrückung und Ordnung Entmenschlichung bedeutete? Wenn die Fürsorge des Staates darauf abzielte, jeden Mann, jede Frau und jedes Kind sprachlos und willfährig zu machen?
    Wenn man diese Tatsachen miteinbezog – war er dann wirklich krank und kriminell, oder wollte man ihn nur krank und kriminell machen, um eben diese Tatsachen nicht zur Kenntnis zu nehmen?
    »Ihre Psychologie«, sagte Matuschek schwerfällig und wunderte sich, während er sprach, über seinen Mut und seine Energie, »Ihre Psychologie ist ein Bastard, der soziale Probleme zu seelischen Störungen bagatellisiert.«
    Die Ärzte lächelten, bleckten die Zähne, blickten vielsagende Blicke. Rescor klatschte in die Hände. »Nun Doktor Tribeau, bitte!«
    Tribeaus Nervensystem schien ständig unter Spannung zu stehen, und diese innere, fortwährende Spannung entlud sich in körperlichen Überreaktionen. Während er sprach, überzogen nervöse rosa Flecken seinen Hals, seine Hände, und unaufhörlich zuckten seine Schultern, wackelte der fast kahle Schädel. Tribeau wölbte den Mund, trompetete seinen Vortrag.
    »Die soziale Herkunft des Patienten Matuschek wirft ein bezeichnendes Licht auf seine Persönlichkeit. Aufgewachsen unter Dieben, Rauschgiftsüchtigen, Anarchisten, Trinkern und

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