Unter Trümmern
Sohnes.
„Hast du die Medikamente?“, fragte er, als sie seinen Kopf wieder auf das Kissen gelegt hatte, und der Vorwurf in seiner Frage war unüberhörbar.
„Wie soll ich das machen? Die kriege ich nicht einfach so.“
„Ich habe Schmerzen. Ich halte das nicht aus!“
Zornig sprang Dorle auf. „Du bist nicht der Einzige, der Schmerzen hat!“, schrie sie ihn an und lief aus dem kleinen Zimmer durch die Küche in den kalten Hof, wo sie sich an die Mauer lehnte und zu weinen begann. Schon nach kurzer Zeit war ihre Wut verraucht und sie machte sich Vorwürfe.
Draußen war es schon längst dunkel, als Neubert vorbeikam. Richard Neubert. Ihr Nachbar, der schon lange ein Auge auf sie geworfen hatte. Mehr noch, er zog sie mit seinen Augen aus und viel, viel mehr als das. Dorle ekelte sich vor dem Mann.
Richard Neubert war fast sechzig, war ein strammer Nazi gewesen und meinte, dass in ein Haus ein Kerl gehöre. Er hatte sich mit Hans-Joachim, ihrem Mann, nie verstanden. Dem war Politik egal gewesen. Er wollte seine Ruhe, seine Fastnachtsmützen, seine Kumpels, das Feierabendbier und manchmal seine Dorle. Den Krieg hatte er verflucht. Sein Vater hatte alle seine Brüder im ersten großen Krieg verloren. Kopfschuss, Giftgas, Bajonett im Nahkampf, Hans-Joachim hatte das oft erzählt.
Neubert meinte, Dorle solle sich nicht so anstellen, wer, wie Hans-Joachim, zwei Jahre in Russland vermisst werde, der komme sowieso nicht wieder.
„Die Kälte, die Lager, die Arbeit und die Russen, diese Tiere, das überlebt keiner. Keiner! Auch dein Hans-Joachim nicht!“, hatte er hämisch gesagt und dabei noch so fies gelacht.
„Kannst du dem Krüppel nicht sagen, dass er leise sein soll“, sagte er ohne Begrüßung. „Andere wollen ihre Ruhe. Die arbeiten den ganzen Tag. Wenn ich dran denke, was früher …“ Neubert sprach den Satz nicht zu Ende.
„Was wäre früher gewesen?“, fauchte Dorle den Mann an, der breitbeinig vor ihr stand. „Weggeschafft wäre er worden? Willst du das sagen, Neubert?“
„Jetzt stell dich nicht so an. Das muss dir doch auch auf die Nerven gehen, dieses ewige Gestöhne und Geschreie. Wenn ich der Vater wäre, dann …“ Neubert machte mit seiner rechten Hand eine peitschende Bewegung. Dabei hatte er wieder diesen lüsternen Blick.
„Du bist aber nicht der Vater.“ Dorle wollte ruhig bleiben, aber sie konnte es nicht. So würde alles nur schlimmer werden.
„Ich kann dir helfen, Dorle“, gab sich Neubert überraschenderweise zuvorkommend. „Ich habe Beziehungen. Ich kann dir Medikamente und Schmerzmittel besorgen. Du musst nicht auf den Schwarzmarkt gehen.“
Dorle wusste, dass Neubert für seine Hilfe ihr Entgegenkommen erwartete. Sie wusste, dass es vieles leichter machen würde, wenn sie sich mit dem alten Mann einließ, aber da war eine Sperre, eine Mauer. Es ging nicht.
Ein paar Mal schon hatte er sich gewaltsam Zutritt in ihr Häuschen verschafft, hatte seinen Fuß in die Tür gestellt und sie nach drinnen geschoben und sich vor ihr aufgebaut. Sein Gesicht so nahe vor ihres geführt, dass sie seinem Atem nicht ausweichen konnte, diesem ekelhaften Gemisch aus Alkohol, Zigaretten und Essen, der ihr die Luft nahm und sie würgen ließ. Nur Rolfs Anwesenheit hatte verhindert, dass er sich auf sie gestürzt hatte.
„Meine Zeit kommt noch!“, sagte er schließlich, als er merkte, dass sie auf sein Angebot nicht eingehen würde und setzte sein schmieriges Grinsen auf. Siegessicher und überlegen.
„Was ist los, Mutter?“, rief Rolf von seinem Bett.
„Nichts, nichts“, antwortete sie beschwichtigend, aber sie konnte die Unruhe in ihrer Stimme nicht verbergen.
„Ich komme!“, rief ihr Sohn und sie hörte, wie er aufstöhnte, als er sich vom Sofa mühte.
„Für dieses Mal ist’s gut, Dorle“, zischte Neubert.
Das Aufstoßen der Krücken kam näher.
„Aber irgendwann ist da kein Rolf mehr. Niemand mehr. Dann wirst du betteln, dass ich komme. Die Zeiten werden sich ändern. Schneller als du denkst.“
An der Tür drehte er sich noch einmal um. „Und sorg dafür, dass der Krüppel nicht die ganze Nacht rumschreit!“
Als Rolf in die Küche kam, war Neubert verschwunden. Er blickte sich kurz um, sah seine Mutter über den Tisch gebeugt sitzen, einen Strumpf stopfen. Ohne ein Wort zu sagen, kehrte er zurück zu seinem Sofa in der Kammer neben der Küche. Zurück ließ er den Geruch von Krankheit.
Bis Sonntag hatte Dorle die fehlenden Zutaten für das Gericht, mit dem
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