Unter Trümmern
aus, was sie so oft gedacht hatte, in den letzten Monaten. Warum hatte es sie getroffen, sie, die jeden Sonntag in die Kirche ging, die ein gottgefälliges Leben führte, die sich an die Gebote hielt und versuchte, Gutes zu tun? Sie, die sich keinen neuen Mann gesucht hatte? Warum widerfuhr ihr so viel Leid? Und andere, die mehr hatten, die nicht nach den Worten der Bibel und des Herrn lebten, warum ging es denen so viel besser? Hatten keine Toten in der Familie zu beklagen, keine Verletzten, die mit ihren Schmerzensschreien das Haus füllten, die genug zum Essen hatten, oft mehr als sie brauchten.
Wieder stieg diese Wut in ihr auf.
Rolf ließ sie nicht weiterdenken.
„Wir nehmen uns, was uns zusteht. Wann brauchst du die Leber und das Hack?“
„Heute. Nein. Morgen“, antwortete Dorle verwirrt. „Morgen will ich dem Brunner die Lewwerknepp bringen.“
„Heute gehe ich und bringe dir alles, was du brauchst.“
Wie Dorle es vorhergesehen hatte, schaffte es Rolf nicht einmal über den kleinen Hof vor dem Haus. Das Anziehen hatte ihn schon so angestrengt, dass er sich in der Küche wieder hinsetzen musste. Er ließ sich so schwer auf den hölzernen Stuhl plumpsen, dass Dorle fürchtete, der Sitz breche zusammen. Dabei wog ihr Sohn gerade mal fünfundfünfzig Kilo, bei einer Größe von fast einem Meter achtzig. Nachdem er sich endlich aufgerafft hatte, schaffte er es gerade bis zur Haustür. Ungeduldig beobachtete die Mutter ihren Sohn. Sie war so schon viel zu aufgeregt.
„Ich gehe!“, sagte sie und versuchte streng zu sein, aber Rolf wischte ihren Einwand mit einer herablassenden Geste beiseite, erhob sich unter lautem Stöhnen und schleppte sich hinaus auf den Hof, in die Kälte. In der Mitte des kleinen Gevierts blieb er stehen, atmete noch heftiger als zuvor, die Atemwolken verließen in kurzen Stößen seinen Mund. Er vermied es, seine Mutter anzuschauen, stützte sich schwer auf seine Krücken. Und brach schließlich zusammen.
Dorle hatte es gewusst. Und seltsamerweise litt sie weder mit ihrem Sohn noch verfluchte sie ihn. Sie funktionierte. Überschaute die Situation, kniete sich neben Rolf nieder und zog ihn zurück ins Haus, wo sie ihn auf dem alten, schon völlig durchgesessenen Sessel im Wohnzimmer ablud.
Rolf war verwirrt über die kühle Präzision, mit der seine Mutter dies machte, rücksichtsvoll, aber ohne dass Widerspruch möglich war.
Nachdem sie ihren Sohn versorgt hatte, machte sich Dorle Becker auf den Weg zum Hof vom Gerber Jupp, der in der Nacht leer stand, wenn sie das auf dem Kirchhof richtig verstanden hatte. Es war dunkel und kalt, aber nichts würde sie auf ihrem Weg aufhalten. Sie war hellwach und schlich sich von der Hauptstraße zwischen den Häusern zum Gonsbach und ging da auf dem unbefestigten, glitschigen, teilweise zugefrorenen Weg weiter, um auf die Rückseite von Gerbers Hof zu gelangen. Die Kälte, die schnell durch ihre Kleider bis zu ihrer Haut drang, hatte auch ihr Gutes: Es war kaum jemand unterwegs.
Die letzten Meter legte sie sehr vorsichtig zurück. Niemand sollte mitbekommen, dass sie bei dem Jupp unredlich eindrang und sich nahm, was sie für ihren Sohn brauchte. Und tatsächlich war alles so, wie Rolf es ihr erklärt und sie es geplant hatte. Der Schlüssel lag an der Stelle, die er ihr genannt hatte, und es bereitete ihr keine Probleme, die Hintertür in den Hof zu öffnen und an der Mauer entlang zu der Scheune zu kommen, wo unter der Falltür die geheime Vorratskammer versteckt liegen sollte. Auch der Schlüssel zu der Scheune lag in seinem Versteck. Sie nahm ihn mit zitternden Händen, schob ihn ängstlich in das Schlüsselloch, weil sie fürchtete, dass er nicht passte. Aber ihre Angst war unberechtigt.
Dorle verspürte ein nie oder zumindest schon lange nicht mehr gekanntes Glücksgefühl, als sie die Strohballen zur Seite geräumt und die Falltür aufgezogen hatte, unter der Rolf die versteckten Waren vermutete. Ihre feine Nase bestätigte ihr, dass sie richtig war.
Sie zündete eine Kerze an, die sie zu Hause eingesteckt hatte und leuchtete umher. Langsam stieg sie die Holzstufen in das Kellerloch unter der Scheune hinab. Hier fand sie das Lager, in dem der Bauer seine Fleischvorräte gelagert hatte. Hier drinnen war es noch kälter als draußen. Nervös ging sie umher, die Kerze vor sich haltend, die durch ihre Bewegungen flackerte. Sie war in Sorge, dass sie erlöschen würde. Bald fand sie die Leber und das Schweinefleisch für das Hack,
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