Unter Trümmern
sie Brunner dazu bewegen wollte, ihr die Schmerzmittel für Rolf zu geben, nicht auftreiben können. Franzis Optimismus. Sie hatte es gewusst, aber sie hatte es zu gerne geglaubt. Vom Majoran und der Petersilie hatte sie noch ein klein wenig von dem übrig, was sie im letzten Jahr in dem kleinen Garten hinter ihrem Häuschen am Ortsrand, nahe den Feldern, angepflanzt und was das Kriegsende überlebt hatte. Sie hatte es getrocknet und in Gläsern aufbewahrt.
Immerhin hatte sie die Wecken und zwei Handvoll Mehl gegen ihr Sonntagskleid eintauschen können. Sie hoffte, dass der Herr ihr verzieh, dass sie nun mit einem abgetragenen, fadenscheinigen Kleid sonntags in die Messe gehen musste. Aber sie war sicher, dass er verstehen würde, dass für das Wohl von Rolf auch er seinen Teil beitragen musste.
Aber die Leber, das Schweinefleisch und der Knochen, woher sollte sie die Zutaten bloß nehmen? Und Franzi lag seit Samstag mit einer Erkältung und Fieber im Bett. Sie konnte ihr nicht helfen. Die letzten Medikamente für Rolf waren schon längst aufgebraucht und seine Schmerzensschreie in der Nacht wurden immer unerträglicher und zerrissen ihr jedes Mal mehr das Herz.
Dorle war verzweifelt, als sie am Fastnachtssonntag alleine in die Messe ging. Sie begrüßte Bekannte, meist Frauen, deren Männer im Krieg gefallen waren oder die sich in Kriegsgefangenschaft befanden und die wie sie eine schwere Zeit durchmachten. Trotzdem glaubte sie so manchen befremdlichen Blick auf ihrem wollenen Kleid zu spüren, obwohl sie eine Jacke darüber trug.
Nach der Messe stand sie mit zwei anderen Frauen auf dem Kirchhof, aber sie hörte ihren Gesprächen nicht zu. Mechanisch nickte sie ab und zu, denn sie war zu sehr mit ihren Überlegungen beschäftigt, woher sie bis Dienstag das Fleisch bekommen konnte.
„Hast du schon gehört“, flüsterte hinter ihr eine Stimme, „dass der Gerber Jupp im Krankenhaus liegt? Ist von der Leiter gefallen.“
Zuerst fühlte Dorle sich gestört durch den verschwörerischen Tonfall, doch sie stand so, dass der eisige Märzwind die Worte deutlich an ihr Ohr trug.
„Keiner ist auf dem Hof. Nur sein Hund passt auf. Die Rosi. Der Peter, sein Sohn, kommt nachmittags und schaut nach, ob alles in Ordnung ist. Warum der keine Frau hat? So ein reicher Bauer.“
„Angeblich hat der eine ganze Kammer voller Fleisch. Gut versteckt.“
Eine andere Stimme widersprach. „Was die Leut so reden. Nur weil der Gerber Jupp so geizig ist.“
„Nee, nee“, entgegnete die andere. „Der gibt sogar der eigenen Familie nichts. Seine Cousine war da. Die hat er weggeschickt. Weil er angeblich nichts hat.“
„Stimmt ja vielleicht auch.“
Obwohl die Frauen leise sprachen, hatte Dorle genug gehört. Sie kannte den Hof von dem Bauern, dem Gerber Jupp, in der Hauptstraße, über den da geredet worden war. Nicht nur so, wie man sich im Ort eben kennt, wenn schon die Eltern und die Großeltern dort gewohnt haben. Besser. Ihr Sohn Rolf war mit Peter, dem Sohn des Bauern, in die Schule gegangen und beide waren vor zehn Jahren zusammen im Jungvolk und später in der Hitlerjugend gewesen. Sie waren ständig zusammen, die beiden Jungs.
Dorle beschloss noch an diesem Tag den Peter aufzusuchen.
Am Mittag, nach dem Kirchgang, versorgte sie Rolf, reinigte seine Wunde, rieb sie mit getrockneter Kamille ein und kochte ihm eine dünne Brühe. Bei jeder Bewegung, die er machen musste, stöhnte er auf.
Als sie endlich mit ihm fertig war, kämmte sie sich, wusch ihr Gesicht und klopfte ihr Kleid noch einmal aus. Der matte Spiegel in ihrem Schlafzimmer zeigte ihr das Bild einer müden Frau.
Dann machte sie sich auf den Weg. Früher war sie gut zu Fuß, in der Schule war sie eine gute Sportlerin gewesen, aber der Krieg, das karge Essen, die Sorgen und der wenige Schlaf durch Rolfs nie endende Schmerzensschreie ließen sie in einem fortwährenden Zustand der Müdigkeit. Ihre Beine waren schwer. Trotzdem war sie jedes Mal froh, auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte, wenn sie einen Vorwand fand, das Haus zu verlassen. Aber noch lange, da hatte sie ihr Häuschen schon weit hinter sich gelassen, hallte Rolfs Schmerzensstöhnen in ihren Ohren nach.
Das große braune Tor zum Hof von Jupp Gerber war verschlossen. Dorle klopfte erst zaghaft gegen das Holz, dann nahm sie einen Stein, der auf der Straße lag, und hämmerte ihn gegen den Eingang. Die Antwort war das tiefe Bellen und Knurren des alten Hundes.
„Wer ist denn da? Wir
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