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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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mit dieser Gemeinschaft, zu der ich gehört hatte, eigentlich auf sich hatte. Ich versuchte, für mich zu sortieren, was richtig und was falsch daran gewesen war.
    Seit ich von zu Hause ausgezogen bin, arbeite ich in einem Supermarkt und mache Aushilfsjobs, um über die Runden zu kommen. Ich habe noch Kontakt zu Freunden aus meiner Aum-Zeit und treffe mich mit ihnen. Ein paar von ihnen sind weiter voll dabei, andere geben zu, dass der Sarin-Anschlag falsch war, finden aber, dass die Lehre richtig ist. Es gibt ganz verschiedene Ansichten. Nur ganz wenige haben jede Verbindung zu Aum abgebrochen und führen ein nach weltlichen Maßstäben normales Leben. Meine Bewunderung für Aum ist völlig verschwunden. Ich beschäftige mich jetzt mit dem ursprünglichen Buddhismus. Übrigens leben alle ehemaligen Mitglieder in irgendeiner Form nach religiösen Vorstellungen.
    Murakami: Natürlich ist der Einzelne frei, Begierden und Bindungen an die Welt zu überwinden, aber objektiv betrachtet, finde ich es eher gefährlich, einer anderen Person, einem Guru, die Macht über das eigene Ich zu übertragen. Gibt es noch viele Mitglieder oder ehemalige Mitglieder, denen das Bewusstsein für diese Gefahr fehlt?
    Vermutlich haben die meisten noch nicht richtig darüber nachgedacht. Gautama Buddha hat gesagt: »Das Selbst nur ist der Herr des Selbst« und: »Das Selbst ist eine Insel. Lass niemanden an sie heran.« Das heißt, die Anhänger des Buddhismus üben Askese, um ihr wahres Selbst zu finden. Sie bemühen sich, Unreinheit und Begierden zu überwinden.
    Aber was Herr Matsumoto gemacht hat, war – vereinfacht ausgedrückt – das »Selbst« mit den »Begierden« gleichzusetzen. Ihm zufolge muss man sich sogar vom »Selbst« befreien, um sein Ego zu überwinden. Da die Menschen ihr »Selbst« lieben, leiden sie dabei, aber erst, wenn das Selbst abgeworfen ist, kommt ein wahrer, leuchtender Kern zum Vorschein. Diese Interpretation unterscheidet sich völlig von der Lehre des Buddhismus, widerspricht ihr sogar. Statt das Selbst zu bekämpfen, muss man es entdecken. Meiner Meinung nach entstehen Terrorverbrechen wie der Sarin-Anschlag aus dieser leichtfertigen Selbstaufgabe. Ein Mensch, der sein Selbst verloren hat, wird völlig gleichgültig gegenüber Mord und Terrorismus.
    Letzten Endes hat Aum Menschen geschaffen, die auf ihr Selbst verzichtet haben und alles taten, was ihnen befohlen wurde. Daher haben auch die so genannten Erleuchteten, die »ganz von Aum durchtränkt sind«, in Wirklichkeit weder die Wahrheit erkannt noch sind sie erleuchtet. Es ist doch schon abartig, wenn Anhänger, die angeblich der Welt entsagt haben, umherrennen und Spenden im Namen der Erlösung einsammeln.
    Ich glaube auch nicht, dass Herr Matsumoto am Anfang ein aufrechter Mensch war und erst nach und nach verrückt wurde, wie manche behaupten. Ich glaube, er hatte diese Vorstellungen von Anfang an. Allerdings konnte er sie nur stufenweise verwirklichen.
    Murakami: Sie meinen, er hatte von Anfang an den Plan im Kopf, irgendwann seine Vorstellung vom Tantra-Vajrayana umzusetzen? Sie sind nicht der Ansicht, dass er erst ab einem gewissen Punkt seine Richtung änderte und in die Irre ging?
    Wahrscheinlich ist an beidem etwas dran. Der Grundgedanke war von Anfang an vorhanden, dann umgab er sich nur mit Ja-Sagern, verlor zunehmend den Sinn für die Realität, und schließlich siegte der Wahn.
    Andererseits muss er ernsthaft die Möglichkeiten der Befreiung durchdacht haben, sonst hätte bestimmt niemand seinetwegen die Gelübde abgelegt. Irgendetwas Mystisches war schon daran. Das kann ich aus eigener Erfahrung sagen, denn beim Yoga und während der asketischen Praxis habe ich auch einige mystische Erlebnisse gehabt.
    Murakami: Was halten Sie davon, dass die Gruppe jetzt zwar ohne Asahara und ohne Tantra-Vajrayana, aber in einem ähnlichen Geist weitermacht?
    Da sich an der Lehre von Aum nichts geändert hat, besteht eindeutig die Gefahr, dass es – wenn vielleicht auch nicht sofort – wieder zu ähnlichen Verbrechen kommt. Die Leute, die bei Aum geblieben sind, erkennen die Lehre – trotz des Sarin-Anschlags – weiter an. Anscheinend sind sie sich der darin enthaltenen Gefahren nicht bewusst. Sie machen sich nicht klar, dass ihre Gemeinschaft schwere Verbrechen begangen hat. Sie denken nur an die Wohltaten und das Gute bei Aum.
    Wenn ich an die Opfer des U-Bahn-Anschlags oder an meine Kollegen denke, die direkt an den Verbrechen beteiligt waren,

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