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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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möchte ich die Leute, die sich immer noch für Aum stark machen, am liebsten schütteln und anschreien – sie fragen, was sie eigentlich im Kopf haben. Aber wahrscheinlich würden sie sich nur noch mehr verhärten und zurückziehen. Man kann ihnen nur immer wieder die Tatsachen vor Augen halten und versuchen, sie durch Beweise zur Einsicht zu bringen.
    Wie ich selbst von jetzt an mit der Welt zurechtkommen werde, ist eine schwierige Frage. Einer Organisation anzugehören, hat mir gereicht. Nach dieser Erfahrung möchte ich es jetzt lieber allein versuchen. Ich möchte meine Bindungen an die Welt lösen, also bleibt mir nichts anderes übrig, als mich Schritt für Schritt allein auf den Weg zu machen.
    Murakami: Sie hatten gerade erst mit dem Studium angefangen und waren dann sieben Jahre bei Aum. Haben Sie das Gefühl, diese Zeit verloren zu haben?
    Nein, gar nicht. Ein Fehler ist ein Fehler. Aber ich finde, ihn zu überwinden, ist ein Wert an sich. Vielleicht ergibt sich daraus ein Wendepunkt in meinem Leben.
    Einige Leute versuchen, ihre Erfahrungen völlig zu verdrängen, indem sie keine Zeitung lesen und sich keine Sendungen über Aum ansehen. Sie machen die Augen zu, aber so kann man natürlich nicht aus seinen Irrtümern lernen. Wie nach einem Test in der Schule muss man seinen Fehlern nachgehen, sonst macht man genau die gleichen immer wieder.

»In meinem früheren Leben war ich ein Mann«
Miyuki Kanda (geboren 1973)
    Frau Kanda ist in Shinagawa geboren, ihr Vater ist Angestellter. Sie ist in einer ganz normalen Mittelstandsfamilie aufgewachsen. Seit ihrer Kindheit hat Frau Kanda mystische Erlebnisse. Mit sechzehn las sie ein Buch von Shoko Asahara, das sie so beeindruckte, dass sie gemeinsam mit ihren beiden Brüdern Aum Shinrikyo beitrat. Um sich auf ihre asketischen Übungen konzentrieren zu können, verließ sie die Oberschule und legte die Gelübde ab.
    Als ich mit ihr sprach, erkannte ich, dass Aum für sie eine ideale Zuflucht sein muss. Zweifellos empfand sie das Leben in der Gemeinschaft und die asketischen Übungen als ungleich beglückender als ihr weltliches Dasein, in dem sie keine ihr entsprechenden Werte finden und ihre Neigung zur Mystik nicht ausleben konnte. So wurde Aum Shinrikyo für sie zu einem Paradies.
    Natürlich könnte man einen Fall wie den ihren – ein sechzehnjähriges Mädchen, das in eine Sekte eintritt – als Entführung oder Gehirnwäsche betrachten, aber immer mehr habe ich das Gefühl, dass es Menschen wie sie auf der Welt geben muss. Sollen denn alle Schulter an Schulter dem materiellen Erfolg nachhetzen? Sollte es nicht auch ein paar Menschen geben, die jenen Dingen auf den Grund gehen, die in der Gesellschaft keine konkrete Rolle spielen? Das Problem ist, dass es in unserer Gesellschaft kein Netz gibt, das diese Menschen auffängt. So gelangten sie zu Aum Shinrikyo, einer Sekte, die sich am Ende als verbrecherisch erwies – ein Paradies, das von Anfang an eine Illusion war.
    Als ich Frau Kanda beim Abschied fragte, ob ein so langes Gespräch mit einem »weltlichen« Menschen sie nicht verunreinige, gab sie mir nach einem Moment der Verlegenheit die ehrliche Antwort: »Logisch betrachtet, ja.« Sie ist eine sehr aufrichtige junge Frau. Sie bot mir frisches selbst gebackenes Brot an, das köstlich schmeckte.

    Schon als ich noch ganz klein war, hatte ich oft mystische Erfahrungen. Meine Träume unterschieden sich nicht von der Realität, sie waren eher Geschichten als Träume, lang und sehr deutlich, und wenn ich aufwachte, konnte ich mich an alle Einzelheiten erinnern. In diesen Träumen gelangte ich in verschiedene Welten und verließ meinen Körper. Ich erlebte so genannte Astralleibprojektionen. Diese Erlebnisse wiederholten sich fast jeden Tag. Während einer Astralleibprojektion bleibt der Körper an Ort und Stelle, die Atmung ist unterbrochen, und man schwebt. Ich hatte diese Erlebnisse häufig, wenn ich sehr müde war.
    Es war ein mystischer Zustand, der sich von dem, was man gewöhnlich Traum nennt, unterschied. Alles war ganz realistisch. Es wäre einfacher gewesen, wenn ich klar hätte sagen können: »Das ist ein Traum und nicht die Realität«, aber das, was ich in meinen Träumen sah, war der Realität so ähnlich, dass es sich damit vermischte und ich immer mehr in Verwirrung geriet. Ich litt darunter, dass meine Träume mir wirklicher erschienen als die Wirklichkeit. »Was ist wirklich?«, fragte ich mich. »Was ist mein wahres Bewusstsein?«
    Der

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