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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Sitzen schlafen. Ein paar Stunden hatten wir Unterricht, dann gab es einen Test. So verlief jeder Tag.
    Diese Schulung habe ich etwa ein halbes Jahr lang absolviert. Ich kann es nur ungefähr sagen, weil ich kaum ein Gefühl für diese Zeit habe … Aber manche Leute machten das jahrelang. Man weiß nicht, wann man aufhören kann. Der Guru bestimmt den passenden Moment, so lange muss man weitermachen. Meine Schulung dauerte ziemlich lange. Zwischendurch wurde ich wieder zur Arbeit geschickt, dann setzte ich die Schulung fort.
    Murakami: War es Asahara, der entschied, wann man die nächsthöhere Ebene erreicht hatte?
    Ja. Aber ich habe nie eine höhere Ebene erreicht. Ich bekam nicht einmal einen »heiligen Namen«.
    Murakami: Aber Sie praktizierten die Übungen über längere Zeit und gaben sich Mühe. Warum kamen Sie nicht weiter?
    Die Erleuchtung hatte bei Aum eine sehr realistische, das heißt, materielle Grundlage. Natürlich spielte das spirituelle Niveau auch eine Rolle, aber Spenden und andere nützliche Beiträge gaben eigentlich den Ausschlag. Bei Männern war zum Beispiel ein Universitätsabschluss eine wichtige Sache. Todai-Absolventen erreichten höhere Ebenen meist am schnellsten, bekamen einen wichtigen Job oder eine Schlüsselposition. Bei Frauen kam es auf ihr Aussehen an. Wirklich! Nicht anders als in der normalen Gesellschaft ( lacht .)
    In dieser Hinsicht spielte meine Person für Herrn Matsumoto wahrscheinlich keine große Rolle. Eine Zeit lang glaubte ich wirklich, ich käme nicht voran, weil ich mich nicht genügend bemühte. Dann kam ich zu einem ähnlichen Schluss wie die meisten: »Der Meister hat eine besondere Vorliebe für Todai-Absolventen.« Ich sprach oft mit meinen Freunden darüber. Wie sonderbar das alles war und so fort. Aber letzten Endes hieß es immer nur: »Das sind unsere eigenen unreinen Gedanken.« Oder: »Das ist eben Karma.« Und damit war das Gespräch beendet. Wann immer Zweifel in mir auftauchten, war meine eigene Unreinheit dafür verantwortlich. Alles Schlechte kam nur davon, während umgekehrt alles Gute dem Guru zu verdanken war.
    Murakami: Ein sehr effektives System. Wie beim Recycling gibt man den Abfall an sich selbst zurück und macht etwas Neues daraus.
    Ich hielt es für einen Weg, das Selbst zu überwinden.
    Am Anfang hatten alle, die sich Aum anschlossen, einen starken Willen. Nur dass ihnen der, wenn sie eine Zeit lang dort gelebt hatten, allmählich abhanden kam. Aber egal wie unzufrieden man mit dem Leben bei Aum auch war, es war immer noch besser, als in ein von Gier verunreinigtes, weltliches Leben draußen zurückzukehren. Psychologisch gesehen war es einfacher, unter Gleichgesinnten zu bleiben.
    Murakami: Ab etwa 1993 veränderte sich die Gemeinschaft, die Gewaltbereitschaft nahm zu. Haben Sie davon etwas mitbekommen?
    Ja. Die Predigten kreisten zunehmend um Tantra-Vajrayana, und es gab immer mehr Leute, die aufgeregt davon sprachen, dass es bald verwirklicht werden würde. Ich konnte mich der These, dass die Mittel zur Erreichung des Ziels keine Rolle spielen, nicht anschließen. Natürlich hatte ich zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung, welche Formen das annehmen würde. Bei unserer Schulung kamen immer mehr fragwürdige Elemente hinzu. Kampfsportarten wurden in unserem Alltag sehr wichtig, die ganze Atmosphäre lud sich irgendwie auf. Ich dachte viel darüber nach, ob ich überhaupt weitermachen sollte.
    Meine Meinung spielte natürlich keine Rolle, und wenn der erleuchtete Herr Matsumoto sagte, dies sei der beste und kürzeste Weg, dann war das eben so. Es blieb mir keine andere Wahl, als entweder zu gehen oder zu bleiben.
    Es konnte jetzt zum Beispiel jederzeit passieren, dass man an den Füßen aufgehängt wurde. Leuten, die gegen die Vorschriften verstießen, band man die Beine zusammen und hängte sie daran auf. Das hört sich vielleicht nicht besonders schlimm an, wenn man es so erzählt, aber es ist schlicht und einfach Folter. Alles Blut läuft aus den Beinen in den Kopf, und man hat das Gefühl, sie würden einem abgetrennt. Das hat mir jemand erzählt, der es erlebt hat.
    Als Regelverstöße bestraft wurden sexuelle Beziehungen zu einem Mädchen, angebliche Spitzeltätigkeit oder der Besitz von Comic-Heften, eben solche Sachen. Der Raum, in dem ich arbeitete, lag direkt unter dem Dojo, und ich konnte von oben die Schreie der Leute hören. »Bringt mich doch um! Lieber sterben als das …!«, brüllten manche. Ihre Stimmen klangen verzerrt, wie

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