Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
Kopf, die gefesselten Handgelenke und die beiden Beine nach oben zogen. Das Opfer lag mit dem Bauch auf dem Boden, und die Konstruktion führte, wie bei einer Marionette oder bei einem Mobile, dazu, dass sich jede kleine Bewegung auf das Gesamtgleichgewicht auswirkte, was eine Kaskade von Schmerzen nach sich zog. Mit einer Rolle war das am leichtesten zu bewerkstelligen. Jennerwein vermutete, dass die Äbtissin keine Zeit gehabt hatte, etwas Derartiges dort oben anzuschrauben. Also hatte sie die Schlaufe mit dem zusammengestückelten Klavierdraht vermutlich über den stärksten Ast geworfen. Den auszureißen, war unmöglich, aber es gab noch die klitzekleine Chance, den Ast zu biegen, die Schlinge über den Ast zu streifen und sie so abrutschen zu lassen. Dafür waren schmerzhafte Schaukelbewegungen über die Längsachse des Körpers nötig. Schnelle, schmerzhafte Schaukelbewegungen, von denen man nicht wusste, ob sie zum Ziel führten. Schon das erste Schwungholen ließ ihn aufstöhnen. Er biss die Zähne fest aufeinander, dass sie knackten, der Schmerz machte ihn rasend, aber er musste mit dem lächerlichen Bauchwippen weitermachen. Endlich spürte er, dass sich der über den Ast geworfene Draht dort oben ein bisschen bewegte. Würde das reichen? Nochmals und nochmals, und endlich konnte er sich auch mit den zusammengebundenen Füßen leicht aufstützen, abstoßen, und die Schaukelbewegung verstärken. Er würde noch ein oder zwei Schwünge schaffen. Wenn der Draht dann nicht über den Zweig rutschte, musste er aufgeben. Er verstärkte seine Anstrengungen. Ein Schwung, noch ein Schwung – die Drahtkonstruktion löste sich. Seine Hände waren immer noch hinter dem Rücken gefesselt, aber er hatte sich befreit. Er rollte auf den Rücken, er löste sich aus den gelockerten Drähten – und dann hörte er einen Schuss. Panisch robbte er hinter den Baum. Erst dann begriff er, dass der Schuss nicht ihm gegolten hatte. Er hustete und keuchte, dann drehte er den Kopf hinüber zu der Stelle, wo er die Äbtissin vermutete. Dort bot sich ihm ein eigenartiges Bild. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt. Sie kniete langsam nieder und schoss talabwärts den Abhang hinunter. Genau aus dieser Richtung musste sein Team anrücken. Jennerwein schnappte nach Luft. Sie lebten also! Und kamen ihm zu Hilfe! Er wollte schreien, um die Äbtissin abzulenken, war aber nicht fähig dazu. Schwer atmend kroch er um den Baum herum und setzte sich auf. Mit gefesselten Händen konnte er seinem Team nicht helfen. Oder vielleicht doch?
Die Äbtissin kniete mit dem Rücken zu ihm, zehn Meter entfernt. Jetzt stand sie auf und ging zwei Schritte zurück, um aus der Schusslinie zu kommen. Acht Meter. Sie zielte und gab einen Schuss aus der Uzi ab. Sie ging noch einen Meter zurück, um einen besseren Stand zu haben. Sieben Meter. Von unten waren undeutliche Rufe und Kommandos zu hören. Erneut legte sie an und zielte den Abhang hinunter. Mit dem letzten Restchen Kraft, das er noch zur Verfügung hatte, spurtete Jennerwein ein paar Schritte in ihre Richtung und hechtete auf sie. Sie war zu überrascht, um ihn abzuwehren. Mit dem Kopf voraus und mit den Armen auf dem Rücken knallte er hart in ihren Rücken. Sie strauchelte und fiel. Von wegen Provinzpolizist.
»Ich habe sie«, schrie Jennerwein nach unten. Aber er hatte sie natürlich nicht, er war viel zu kraftlos. Sie stieß ihn von sich, rappelte sich auf und lief durch das Gestrüpp den Berg hinauf. Und jetzt vernahm Jennerwein Stengeles scharfe Kommandostimme.
»Wir gehen den Hügel hoch! Bleiben Sie trotzdem in Deckung!«
Vier völlig erschöpfte Gestalten tauchten auf und stürzten auf Jennerwein zu.
»Gott sei Dank«, gurgelte der. »Sie sind alle unverletzt?«
»Ja. Sie ebenfalls?«
Jennerwein blutete am Hals und an den Handgelenken.
»Sieht schlimmer aus, als es ist. Nur Schnittwunden.«
Er deutete nach oben.
»Sie ist da lang gelaufen!«
»Jetzt haben wir sie!«, rief Stengele. »Der Weg führt zur Wolzmüller-Alm. Da hat sie keine Chance zu entkommen. Es gibt keinen Ausweg!«
Alle blickten automatisch nach oben. Dann legten sie den Kopf in den Nacken. Am wolkenlosen blauen Abendhimmel war ein Hubschrauber zu sehen. Es war kein Polizeihubschrauber. Auf Nicoles Handy trudelte eine Nachricht von Ostler ein, es war ein pixeliges Bild von einer Zeichnung. Was interessierte jetzt eine Zeichnung! Nicole nahm Jennerwein die Handfesseln ab.
»Den Draht nehme ich mit«, sagte Jennerwein
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