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Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)

Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)

Titel: Unterholz: Alpenkrimi (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
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hatte.
    »Jennerwein?«
    Er zuckte erschrocken zusammen.
    »Kommissar Jennerwein?«
    Er wollte den Kopf drehen und stöhnte vor Schmerz auf.
    »Wenn Sie sich ruhig verhalten, tut es weniger weh.«

    Die gepresste Flüsterstimme war für Jennerwein nicht zu identifizieren. Sie war weder jung noch alt, weder männlich noch weiblich, weder deutsch noch ausländisch. Er wusste, dass es die Äbtissin war, er wusste aber immer noch nicht, wie ihre Stimme klang und wie sie momentan aussah. Aber es gab vielleicht einen Ausweg aus seiner verzweifelten Lage. Der Plan reifte in einem Areal seines Gehirns, das sich ausschließlich mit solchen Dingen beschäftigte. Es war uralt, dieses Areal, vielleicht dreißigtausend Jahre alt, und der kleine Hirnlappen hatte sich schon bei den Steinzeitmenschen mit der überlebensnotwendigen Frage beschäftigt, wie man nach einer Gefangennahme wieder fliehen konnte. So einfach war das. Jennerwein wusste, was er zu tun hatte. Zunächst musste er diese Frau beschäftigen, um Zeit zu gewinnen. Sie hielt ihn für einen tölpelhaften Provinzpolizisten? Den konnte sie haben. Jennerwein stellte sich sehr, sehr dumm.
    »Wer sind Sie?«, fragte er keuchend. »Sind Sie der Tunesier? Chokri Gammoudi? Oder Pierre, der Franzose?«
    Die Frau hinter ihm reagierte nicht darauf. Jennerwein pokerte weiter. Er warf ihr einen Brocken nach dem anderen hin, um sie in Sicherheit zu wiegen.
    »Wir wissen auf jeden Fall, dass Sie einer der Seminarteilnehmer sind. Wir haben eine vollständige Liste. Wir haben zwar keine Namen und Adressen, aber die brauchen wir auch gar nicht. Wir besitzen Phantomzeichnungen nach Ganshagels Angaben.«
    Die Frau hinter ihm schwieg beharrlich weiter.
    »Alle anderen Seminarteilnehmer sind vermutlich geflohen. Aber Sie … sind geblieben … Ring um den Kurort haben wir … Sie werden nicht weit kommen.«
    Jennerwein hatte große Mühe zu sprechen. Sie lockerte die Schlinge um seinen Hals.

    Jennerwein hatte einen einzigen Trumpf: Sie wusste noch nicht, dass die Tote nicht mehr für die Äbtissin gehalten wurde. Jennerwein lauschte. Keine Geräusche, keine weiteren Reaktionen. Kein Verlagern des Gewichts von einem Bein aufs andere, keine Atemgeräusche. Und jetzt begriff er: Diese Frau stand nicht mehr hinter ihm, sie hatte sich lautlos entfernt. Jede noch so kleine Bewegung bereitete Jennerwein schneidende, immer größer werdende Schmerzen. Doch er musste weiterplappern. Er musste Zeit schinden. Er wollte sie in dem Glauben lassen, dass er immer noch dachte, dass sie hinter ihm stünde. Und er musste ihr den Eindruck vermitteln, dass er polizeitaktische Maßnahmen verriet. Er hoffte, dass sein Team jeden Augenblick eintraf. Und zusätzlich reifte noch sein kleiner, fast aussichtsloser, aber immerhin möglicher Fluchtplan.
    »Hören Sie gut zu«, sagte er weiter. »Wir werden die einzelnen Bilder der Seminarteilnehmer in sämtlichen Nachrichten bringen. Auch im Ausland. Wir werden dafür sorgen, dass eine internationale Jagd auf Sie beginnt. Und Sie wissen, was das bedeutet? Sie sind nirgends sicher. Weder in den Hochwäldern Brasiliens noch in den weiten Ebenen der russischen Taiga. Wir finden Sie überall –«
    Jennerwein redete jetzt schon fast wie ein Mafiaboss. Herrgottnocheinmal, wo blieb denn sein Team? Er hatte doch eine Positionsangabe durchgegeben, und Nicole hing zusätzlich dauernd über ihrem Silent Smooth Operator oder wie das Zeug hieß! Ein grauenvoller Gedanke durchschoss ihn: Hatte diese Frau sein Team ausgeschaltet? Es ging nicht anders: Er musste jetzt seinen Fluchtversuch wagen.

    Die Äbtissin atmete durch. Ihre wahre Identität war nicht aufgeflogen. Prima. Aber jetzt musste sie schnellstmöglich von hier verschwinden. Sie musste endlich raus aus diesem blöden Talkessel, zu ihrem gut vorbereiteten Versteck. Konnte es sein, dass dieser unscheinbare Kommissar bluffte? Sie lud ihre Uzi durch.

    Jennerwein hörte ein Knacken. Was war das? Er musste es jetzt tun. Jetzt gleich. Er hatte vorher einen kurzen Blick auf die Baumkrone geworfen, die aus lauter schmalen Ästen bestand. Der größte Ast war kinderarmdick. Er hätte keinen Menschen getragen, aber es reichte, um eine Schweinefessel dort zu befestigen. Um das austarierte Prinzip dieser freiheitsberaubenden Fixierung möglichst optimal zu gestalten, war normalerweise eine Rolle nötig, die an eine Holzdecke oder eben an die Unterseite eines Astes geschraubt war. Dort liefen die vier Drähte zusammen, die den

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