Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
sich einen Eindruck von der Lage zu machen. Hundert Meter von Jennerwein entfernt warf sie das Handy in hohem Bogen talabwärts, den Abhang hinunter. Diese Alpen-Sanchos waren erst einmal eine Zeitlang beschäftigt. Sie lief wieder zurück zu dem reglos daliegenden Kommissar. Sie musste herausbekommen, was er wusste. Michl Wolzmüller interessierte sie nicht mehr. Die Radionachricht war eine Finte gewesen. Dieser arme Irre war völlig ungefährlich – der hatte gar nichts gesehen! Sie näherte sich Jennerwein so, dass er sie nicht sehen konnte. Und er sollte auch ihre Stimme nicht hören. Sie stand jetzt über ihm und wippte auf den Zehenspitzen.
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charles dickens pickwickt im dickicht
tim verhérget sich im dichten gestruppi
wilhelm busch paintbrusht witwe boltes gebüsch
und unter »holz«? was findest du da im lexikon?
etwa arno?
Ein Beitrag beim Wamberger Poetry Slam (2. Platz)
Der dünne Stahldraht um seinen Hals zog sich ruckartig zusammen. Jennerwein schrie auf vor Schmerzen. Er hatte versucht, den Kopf zu heben, dabei war der empfindliche Ruhezustand der straff gespannten Drähte, mit denen er fixiert war, aus dem Gleichgewicht geraten. Der Druck auf seine Kehle nahm zu. Jennerwein würgte und hustete. Nur mit großer Mühe konnte er Luft holen, denn jede noch so kleine Bewegung steigerte seine Schmerzen ins Unerträgliche. Er lag auf dem Bauch. Direkt vor seinen Augen konnte er moosigen Waldboden erkennen, der mit Wurzelwerk durchsetzt war. Der Boden war leicht abschüssig. Die Erde roch scharf und unverschämt wohltuend nach Bergwald und Pilzen. Die Erinnerung kam langsam zurück. Er war angegriffen worden.
In den ersten Sekunden wusste er nicht, wo er sich befand und wie er hierhergekommen war, doch er begriff sofort, dass er sich in einem Zustand der retrograden Amnesie befand. Sein Gehirn war vernebelt. Er wollte sich aus diesem Gewirr befreien. Nach einigen Bewegungen, die rasende Schmerzen mit sich brachten und ihn wie Peitschenschläge trafen, begriff Jennerwein, dass er vollkommen ruhiggestellt war. Jede Bewegung in jegliche Richtung bereitete höllische Schmerzen. Wie war er bloß in diese Situation geraten? Schon wieder hatte er eine unbedachte Bewegung gemacht. Die Schmerzen fraßen sich fest wie wütende Hunde. Wer hatte ihn in diese Lage gebracht? Und wo waren die anderen Mitglieder seines Polizeiteams? Er drehte die Augen nach rechts, ohne den Kopf zu bewegen. Er blinzelte ungläubig. Einen halben Meter vor ihm bewegte sich etwas. Was war das?
Es war eine Ansammlung von zwei, drei Dutzend Käfern. Entsetzen packte ihn. Es waren Aaskäfer. Und Jennerwein wusste, worauf sie warteten. Es waren exakt dieselben Käfer, die er am Tatort unter der Zirbe gesehen hatte. Anscheinend schnitt der Draht an mehreren Körperstellen so stark ein, dass er schon heftig blutete. Das lockte die Aaskäfer an. Befanden sich schon einige dieser Silphen auf seinem Körper? Er schüttelte sich voller Ekel. Wieder folgte eine Kaskade von peitschenden Schmerzen. War das der Plan der Äbtissin? Ihn hier bei lebendigem Leib auffressen zu lassen? Jennerwein versuchte, sich zu beruhigen. Die Zeit drängte. Er musste etwas unternehmen. Langsam und noch undeutlich begann ein Plan in seinem Kopf zu reifen.
Die Äbtissin streifte ihren Gefangenen mit einem verächtlichen Blick. Das also war der leitende Hauptkommissar Jennerwein, über den sie in der Zeitung so viel gelesen hatte. Die Blätter ließen kein gutes Haar an ihm. Und sie hatten recht: Dieser Mann, der jetzt zu einem hilflosen Bündel zusammengeschnürt war, der taugte wirklich nichts. Wenn dieser Provinzheini wirklich was draufhätte, dann läge er nicht hier. Dann säße er schon längst im Polizeibüro einer Großstadt, als Leiter einer wichtigen Abteilung für Organisiertes Verbrechen oder Ähnliches. Aber dieser Typ hier? Na ja. Als Erstes hatte sie ihm seine Dienstpistole abgenommen. Er hatte es nicht mehr geschafft, sie abzufeuern. Er war eine Zehntelsekunde zu spät dran gewesen. Die Äbtissin betrachtete Jennerweins Heckler & Koch und wischte sie sorgfältig ab. Sie warf sie in hohem Bogen von sich. Eine weitere Goldene Regel: Schleppe keine Dienstpistolen der Polizei mit dir herum. Viel zu riskant. Sie näherte sich ihrem eingeschnürten Gefangenen, und sie achtete darauf, immer hinter ihm zu stehen. Sie ging in die Knie und beugte sich zu seinem Kopf. Sie flüsterte, genauso, wie sie es bei den beiden Schultheissens auf der Massagebank getan
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