Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
umtriebige Geschäftsmann auf eine andere Attraktion spezialisiert: Hubschrauberrundflüge über die Zugspitze. Viele der Einheimischen verachteten diese Art von Tourismus, doch die Rundflüge waren immer ausgebucht, von Landsleuten, die bei sich zu Hause keine oder keine nennenswerten Berge hatten: Belgier, Holländer, Polen und Engländer. Ostler hatte bei Hacker angerufen, die auskunftsfreudige Dame im Büro hatte es ihm bestätigt: Der Hacker-Hubschrauber nahm acht bis zehn Leute auf, dann erhob er sich mit ihnen in die Lüfte. Ostler ging auf den Landeplatz zu, den ihm die freundliche Dame genannt hatte, und im Näherkommen zählte er zehn Menschen, die dort warteten. Er hoffte nur, dass es lauter auswärtige Touristen waren, die ihn nicht kannten. Aber da hätte er sich keine Sorgen zu machen brauchen: Die Meute schnatterte wild durcheinander, er fing fast nur englische und holländische Sprachfetzen auf, dazu ein paar norddeutsche. Niemand sprach bayrisch. Ostler trat noch näher. Er ließ seinen Blick über die Wartenden schweifen. Ein paar hatten sich eine Kapuze übergezogen, vielleicht wegen des Windes der Rotoren. Ostler biss sich voller Selbstzweifel auf die Lippen. Was hatte das für einen Sinn gehabt, hierherzukommen? Er handelte auf eigene Faust, er hatte momentan überhaupt keine Rückendeckung vom Chef. Er hatte zwei-, dreimal bei ihm angerufen, aber es war jedes Mal besetzt gewesen. Vielleicht hätte er das Krankenhaus gar nicht verlassen dürfen. Vielleicht hatte er dort etwas Wichtiges übersehen. Einige der Zugspitztouristen beäugten ihn neugierig. Oder beäugten sie ihn misstrauisch? Sollte er zu einem hingehen und ihm leise ins Ohr flüstern:
»Polizeiobermeister Ostler, Polizeieinsatz. Geben Sie mir unauffällig ihr Flugticket. Entfernen Sie sich langsam von diesem Areal und lassen Sie mich stattdessen mitfliegen.«
Unsinn. Was war das für eine Schnapsidee. Wie sollte er in diesem Fall weiter verfahren? In der Luft die Personalausweise kontrollieren? Ostler stand jetzt nur noch wenige Meter von den Wartenden entfernt. Einige zeigten hoch in die Luft, denn dort oben war, noch ganz klein, ein Hubschrauber im Anflug zu sehen. Er kam rasch näher. Das Geschnatter wurde lauter. Er musste unbedingt Jennerwein anrufen. Er musste sich von ihm weitere Anweisungen holen. Aber bei dem Lärm? Er versuchte, jeden der Touristen unauffällig zu mustern und einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen. Der Hubschrauber war im Landeanflug, die Passagiere eilten auf das Areal zu.
Und dann erkannte Ostler das Gstell . Es war eine Frau, die mit dem Rücken zu ihm stand, sie war bekleidet mit einem leichten Windanorak, und sie wippte fast unmerklich auf den Zehenspitzen. Sie war unauffällig, total unauffällig. Er hatte vorhin im Näherkommen ihr Gesicht gesehen, und es glich überhaupt nicht dem Gesicht der Äbtissin auf dem Foto. Dunkle, kurze Haare, viel zu dicke Wangen. Aber sie war die Äbtissin. Es war genau die Frau, die der Michl gezeichnet hatte. Er hatte nicht das Gesicht oder irgendwelche Details an ihrer Statur gezeichnet, er hatte ihre Eigenschaften mit ein paar wenigen Strichen erfasst, ihr Gstell . Und genau das sah Ostler jetzt vor sich: die vorgeschobenen Schultern einer durchtrainierten, kräftigen Frau, und ihre Bemühung, unauffällig zu wirken. Sie glich einer Sprungfeder, die bis zum Äußersten gespannt war. Die Frau ging mit den anderen Touristen los, sie drehte den Kopf leicht, so dass er sie im Profil sah. Er bemerkte ihren gehetzten Blick, den sie mit eiserner Disziplin im Zaum hielt. Sie blieb stehen. Fünf Meter vor Ostler stand, mit dem Rücken zu ihm, die gefürchtete Äbtissin.
Der Hubschrauber des Reisebüros Hacker senkte sich herab. Ostler musste jetzt handeln. Jetzt sofort. Er bekam einen Schweißausbruch, seine Knie zitterten. Er musste sich zusammenreißen. Wenn er sie einsteigen ließ, hatte er keine Chance mehr, sie lebend zu fassen. Dann hatten auch die Insassen keine Chance mehr. Dann hatte sie ein Dutzend Menschen in ihrer Gewalt. Er musste jetzt handeln. Er musste sie hier unten am Boden ausschalten. Aber wie, um Gottes willen? Sie hatte sich in die Mitte der anderen Wartenden gekeilt, es war ausgeschlossen, die Schusswaffe zu benützen. Beim ersten Anruf Halt! Stehenbleiben! könnte sie sofort eine Geisel nehmen. Wen würde sie sich greifen: den freundlichen Holländer? Das junge Mädchen mit den Zöpfen? Der Hubschrauber setzte auf dem Boden auf. Alle duckten
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