Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
Privatier
1929 – 1995
Droben am Berg bist du gewesen, nah beim Herrgott hast du gmaht, Kühe gmolken, Fremde gfüttert, und dann hats dich obidraht!
Die Anführungszeichen bei »ruht« konnte man, wie heutzutage üblich, als Verstärkung des Gesagten verstehen: Heute »frische« Weißwürste. Man konnte natürlich auch einen ketzerischen Zweifel an der katholischen Auferstehungstheorie herauslesen: Ruhte er vielleicht gar nicht in der Erde, sondern war er in eine hinduistische Wolke reinkarniert, der alte Wolzmüller? Kaum jemand dachte an die naheliegende Erklärung des in Gänsefüßchen Ruhenden: Dass nämlich der Wolzmüller gar nicht in diesem Grabe ruhte, sondern ganz woanders. Es gab Gräber, da waren mehr Leichen drin, als die Bestattungsordnung zuließ. Es gab jedoch auch den umgekehrten Fall. Ein Grab mit allem Pipapo, von der Inschrift bis zur Bepflanzung, doch die Gebeine lagen woanders. Die Graseggers mussten es wissen.
»Weißt du noch? Wie wir den Wolzmüller Andreas droben auf seiner Alm eingegraben haben?«
»Ja, ich erinnere mich noch genau. Und der Bub von ihm? Der müsste doch auch schon fünfzig sein. Lebt der eigentlich noch?«
»Der Michl, freilich lebt der noch, draußen in Grainau.«
»Armer Teufel. Aber ein guter Maler soll er einmal gewesen sein.«
22
Francisco de Goya malte zwischen 1797 und 1805 die beiden berühmten Bilder La maja vestida (Die bekleidete Maja) und La maja desnuda (Die nackte Maja). Was aber weniger bekannt ist: 1798 kam La maja sotobosque (Maja im Unterholz) dazu. Dieser Halbakt vereint die Vorzüge und Nachteile beider Bilder. Es zeigt wahrscheinlich die 13. Herzogin von Alba, sich hinter einem dichten Strauch verbergend.
Und was für ein guter Maler der junge Wolzmüller Michl vor dreißig Jahren war! Gut ist gar kein Ausdruck. Genial war er. Faul, aber genial. Und er stünde vielleicht schon in jedem Lexikon der modernen Kunst, wenn er sich nicht im Gestrüpp der Kunstmafia verheddert hätte, damals, Mitte der Achtziger.
»Aber was hast du denn da für ein grausliges Bild hängen!«, rief Möbius entsetzt aus. Er war das erste Mal in Michls Stube. Sie war sehr spartanisch, sehr dürftig eingerichtet, wie bei ganz großen Malern eben üblich. Das einzig Bequeme war ein flauschiges Bett, ein Faulbett, das mit mehreren Decken und Kissen vollgestopft war. Der Komponist Gioacchino Rossini hat so eines gehabt. Und er hat es, ähnlich wie Marcel Proust, nicht verlassen. Er soll den »Barbier von Sevilla« (auch der steht meist in Anführungsstrichen) darin komponiert haben, angeblich in zwei Wochen. Dann aber: Ein offenes Fenster, ein Luftzug, und die Ouvertüre soll ihm aus dem Bett gefallen sein. Zu faul zum Aufstehen, hat er einfach eine zweite komponiert. So einer war auch der Wolzmüller Michl. Zwischen den Laken und Decken lagen viele Stifte, Wachsmalkreiden – sogar offene Ölfarbentuben, denn der Michl war inzwischen auch technisch einigermaßen fortgeschritten. Aber hauptsächlich interessierte er sich für die unfarbige Zeichenkunst, und so lagen Dutzende von Zimmermannsbleistiften im Bett, in verschiedenen Verbrauchtheitszuständen.
»Aber das schlechte Bild!«, rief Möbius. »Um Gottes willen, warum hängst du das nicht ab! Das inspiriert dich doch überhaupt nicht!«
»Eben schon«, sagte der Michl.
Das Bild zeigte – was denn auch anderes – einen alten Bauern des Kurorts, der in der Frühlingstraße zufrieden grinsend auf einer mit Schnitzereien verzierten Bank saß und ein Pfeiflein schmauchte. Im Hintergrund bot sich die übliche Werdenfelser Dreifaltigkeit dar, bestehend aus Alpspitze (Vater), Waxensteine (die Söhne) und Zugspitze (der Heilige Geist); aber alles, vom alten Bauern über das Grinsen bis zu den Bergen, all das war so erdhöhlenschlecht gemalt, wie es Möbius noch nie im Leben gesehen hatte. Die Perspektiven stimmten hinten und vorne nicht, die Farbränder liefen übereinander, Schraffuren reichten über die Begrenzung hinaus, man konnte die Skizzenstriche erkennen –
»Das Bild ist von mir«, gab der Michl schließlich zu. »Ich habe alles so gemalt, wie es nicht gehört. Da lernt man am meisten. Wenn man es zuerst so macht, wie es nicht gehört, dann sieht man am deutlichsten, wie es gehört.«
Der Satz sollte später in vielen kunstgeschichtlichen Lexika stehen, allerdings mit falscher Quellenangabe.
»Ich werde es mir merken«, sagte Möbius.
»Und was machen wir heute?«
»Aktzeichnen.«
»Was soll das
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