Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
fehlenden Füße vorstellen müssen. So hat der Zeichner dann im Endeffekt schon ein gutes Bild gezeichnet.
Yasmina Reza, »Kunst«. Ein Miniaturdrama.
(Ein Mann in einer Galerie. Er steht vor einem Bild von Fuselitz und betrachtet es.)
Mann Das kann ich auch.
(Ein zweiter Mann tritt hinzu.)
Zweiter Mann Banause!
Mann Sie sind der Banause. Ich bin Fuselitz.
Zweiter Mann Wer ist Fuselitz?
Mann Sehen Sie.
Zeitungsnotiz.
Vergangenes Wochenende wurde die Bleistiftzeichnung Halbakt von Kai Fuselitz, 34 mal 57 Zentimeter, leicht eingerissen, gekauft. Über den Erlös ist nur so viel durchgesickert, dass er siebenstellig gewesen sein soll.
24
Vom Seil gehen, aus der Wand fallen, im Flug noch rechts die Kampenwand sehen, den Flachmann machen, die Luftgrätsche geben, herunterhyperbeln, sich der x-Achse annähern, im Unterholz landen …
Ausdrücke für »abstürzen« in der Bergsteigersprache
Die Internistin stellte ihren Rucksack auf den steinigen Boden des Wanderwegs. Dann drehte sie sich nach hinten, holte weit aus wie eine Speerwerferin und schleuderte das Kerngehäuse eines Apfels über die Felskante der Törlspitze. Sie beugte sich vorsichtig über den Abgrund und sah dem Apfelbutzen zu, wie er langsam die drei- oder vierhundert Meter nach unten trudelte. Der Neurologe mit den sächsischen Grenzschützerwurzeln griff in die Seitentasche seines Rucksacks, holte einen zerbeulten Flachmann heraus und summte ein Lied, das irisch klang.
»Meine Ration für Notfälle«, sagte er. »Bergnot, du verstehst. Single Malt Scotch, fünfundzwanzig Jahre alt. Passt auch besser zu der Törlspitze als dein oller Granny Smith.«
Er schraubte das Fläschchen auf und nahm einen Schluck.
»Du auch?«
»Nein danke.«
Der Neurologe begann, ein paar Tropfen des Flachmanninhalts vorsichtig über die Felskante zu gießen.
»Eine Opfergabe? Für wen?«
»Ich weiß nicht, vielleicht für die vier bayrischen Luftburschen.«
Er hielt den Flachmann in die Höhe.
»Auf Gustl, Hias, Blasi und Naaz!«
Die goldene Flüssigkeit rann langsam den Kalkstein hinunter. Der Single Malt ließ sich Zeit, er floss träge und ölig über die Kante. Der Geruch, der aufstieg, war bitter und herb-süßlich, wie ein Hauch von dudelsackumklungenen schottischen Highlands, der sich hervorragend ins Derb-Würzige des bayrischen Alpenlands einfügte – Freistaat ist Freistaat.
Die beiden Mediziner waren frei von jeder Höhenangst, sie traten noch einen Schritt näher an den Abgrund. Sie suchten festen Stand und blickten hinunter. Einige Steinchen kullerten in die Tiefe. Momentan herrschte absolute Windstille. Der Neurologe faltete eine Karte des Werdenfelser Landes auf, hob den Arm und zeigte hinüber. Das Panorama auf der anderen Seite des Tales wurde dominiert von dem bewaldeten Ungetüm des Kramergebirges.
»Ist das da drüben der Königstand?«, fragte die Internistin.
Der Neurologe nahm das Fernrohr aus dem Rucksack. Er fuhr damit die gegenüberliegenden Berge ab und reichte es der Internistin.
»Das windschiefe Ding neben der Kramerspitze? Ich glaube eher, dass das der Felderkopf ist.«
»Der Felderkopf, ja. Die Wolzmüller-Alm kann man von hier aus überhaupt nicht sehen. Schade.«
»Jetzt tut es mir fast leid, dass wir gestern nicht rübergegangen sind.«
Die zwei Gipfelstürmer hatten noch keine Nachrichten gelesen oder gehört. Sie hatten nichts von den Vorfällen auf der Alm mitbekommen. Sie hatten zwar eine Frau mit Hut unter einem Baum liegen sehen, aber sie wussten nicht, dass sie Zeugen eines Mordes waren. Gestern Abend war es spät geworden in der Kneipe, andere Gäste hatten ebenfalls launige Berggeschichten zum Besten gegeben und dazu reichlich Gipfelgurkis gekippt, darum hatten die beiden heute Morgen verschlafen. Sie waren später aufgebrochen als sonst, mittags in Richtung Meilerhütte marschiert, waren in der Augusthitze umhergewandert und standen jetzt direkt am Abgrund.
»Da, kuck nach unten, da springt eine Gemse!«
»Nein, schau, das ist ja ein ganzes Rudel!«
»Meinst du, der Apfelbutzen ist schon unten?«
»Ich weiß nicht, wie lang so ein Apfelbutzen braucht.«
Sie schwiegen und genossen die spätnachmittägliche, von Minute zu Minute schwächer werdende schwüle Hitze.
»Brechen wir langsam auf?«
»Warten wir das Sieben-Uhr-Läuten noch ab, das klingt hier oben immer besonders schön. Wenn wirs dann packen, sind wir um neun Uhr unten.«
»Außer wir machen noch einen Umweg über den Krummbieglkopf.
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