Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
paar Sachen müsste man noch herauslesen können: Ist sie In- oder Ausländerin gewesen, hat sie Sport getrieben, gibt es körperliche Besonderheiten, hat sie irgendwelche paramilitärische Ausbildung gehabt. Aber das dauert seine Zeit.«
Jennerwein schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
»Das gibt es doch nicht, dass jemand überhaupt keine Spuren hinterlässt.«
Das gab es wohl. Die Äbtissin zum Beispiel war in der Szene schon seit Jahren berühmt dafür, überhaupt keine Spuren zu hinterlassen.
26
Beim Kegeln spricht man von ›Unterholz‹, wenn der (zugegebenermaßen seltene) Fall eintritt, dass die Kugel beim Wurf auf der Abwurflinie liegen bleibt, der Werfer hingegen durch die Wucht des Schwunges auf die Kegelbahn stürzt, weiterschlittert, in Richtung der Kegel rutscht, alle Neune abräumt und schließlich im Schacht landet. (So geschehen beim Deutschen Preiskegelfest 1887 in Leipzig.) Passender Spruch dazu: Gut Unterholz!
Ohne Vorwarnung, in voller Lautstärke begann das Sieben-Uhr-Abendgeläute. Man vernahm die Glocken durch die ganze Gemeinde, sie riefen zur Vespermesse, sie erreichten die Gläubigen und Ungläubigen gleichermaßen, der mahnende Ruf der heiligen Monsterkübel breitete sich im ganzen Kurort aus, er drang ein in die Ohren und Herzen der Zauderer und Zögerer, die in der entsprechenden Bibelstelle gerügt werden, er war schließlich sogar auf den umliegenden Bergen zu hören. Auch der großgewachsene Mann droben auf der Törlspitze vernahm den Chor der kupfernen Kirchgangrufer, aber er achtete nicht weiter darauf. Er trat an den Rand des Abgrunds und blickte hinunter. Er nahm auch keine Notiz von den beiden Medizinern, die vor der bedrohlichen Gestalt beiseitegeschnellt waren und sich vorsichtshalber einige Schritte von dem Mann entfernt hatten, landeinwärts, weg von der Felskante, für alle Fälle.
»Der hat vielleicht Nerven«, sagte die Internistin. »Uns so zu erschrecken. Kennst du den? Wer ist denn das?«
Der Neurologe wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Das ist der Patient, von dem ich dir erzählt habe!«
»Der Demenzkranke?«
»Genau der. So, wie ich das sehe, ist sein Zustand schon ziemlich weit fortgeschritten. Er ist nicht mehr fähig, sich an bekannte Gesichter zu erinnern.«
»Ja, und da ist er ganz allein unterwegs!«
»Nein, das ist er nicht!«
Die Stimme kam aus der gleichen Richtung, aus der auch der Borreliose-Patient gekommen war. Ein junger Bursche mit rotem Gesicht und langen Haaren prustete die letzten Meter herauf.
»Ich bin der Zivildienstleistende von diesem Herrn«, sagte er zu den beiden Medizinern und warf sich erschöpft auf den Boden. »Er weiß nicht mehr, wie viel zwei plus zwei ist, aber Bergsteigen, das kann er noch! Ich bin ihm kaum nachgekommen.«
»Aber das ist doch ziemlich gefährlich!«
»Sie meinen, dass er abstürzt oder so was? Nein, keine Sorge, die Gefahr besteht nicht. Klettern, Gewichtheben, sogar Kajakfahren, das macht er alles noch, ohne dass er sich auch nur einen Kratzer zufügt. Was man mal körperlich eingeübt hat, das behält man. Glauben Sie mir, ich betreue ihn jetzt schon seit drei Monaten. Es gibt Abende, da bin ich fix und fertig.«
Sie traten näher zu dem erschöpften jungen Mann. Er richtete sich auf.
»Aber sagen Sie mal: Sie kenne ich doch! Sie sind Ärzte im Krankenhaus. Ich habe Sie schon lange nicht mehr gesehen.«
»Wir haben uns ein paar Tage freigenommen. Bergsteigen, Wandern, auf Gipfeln rumhängen. Das ist unser Hobby.«
»Dann haben Sie ja gar nicht mitgekriegt, was auf der Wolzmüller-Alm los war.«
»Auf der Wolzmüller-Alm?«, fragte die Internistin verwundert. »Nein, wieso? Was ist da geschehen?«
»Was Genaues weiß man noch nicht. Nachrichtensperre. Die Polizei ermittelt. Eine Leiche ist gefunden worden. Völlig unkenntlich. Von ein paar Verdächtigen haben sie Phantomzeichnungen ins Netz gestellt.«
Der Zivi lachte.
»Sie beide sind übrigens nicht dabei.«
»Da sind wir ja froh.«
»Schade, dass ich hier oben auf meinem Handy keinen Empfang habe. Sonst würde ich ihnen die Verbrechergalerie zeigen. Ein Mann mit Glatze ist mit von der Partie, eine komische Alte mit einer Frisur wie SpongeBob, ein Araber mit einem Tennisball –«
»Wie bitte?«
»Knetet dauernd einen Tennisball. Nach einer Zeugenaussage.«
»Den haben wir doch auch –« Der Neurologe unterbrach sich. »Wann ist der Mord geschehen?«
»Gestern Abend. Beim Sieben-Uhr-Läuten. Also genau vor
Weitere Kostenlose Bücher