Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
wohlige Schauder liefen tausend Rücken hinunter. Wer kannte diese Frau? Niemand kannte sie. Auch Ganshagel nicht. Auf der Seite unten hatten sie sein eigenes Foto abgedruckt. Die Bildunterschrift lautete: Betreiber Ganshagel (39) ratlos. Das passte ihm eigentlich überhaupt nicht, so ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt zu werden, aber ein kleines bisschen Stolz keimte doch in ihm auf. Im Hauptartikel war von einem rührigen Hüttenwirt die Rede. Auch der unvergleichliche Geschmack seiner Sauren Knödel wurde erwähnt, genauso wie seine erstaunlichen Fremdsprachenkenntnisse – sieben Sprachen sollte er angeblich fließend beherrschen. Ganshagel spürte das süße Gift des hochmütigen Stolzes in sich aufsteigen, der Knollennasige hätte ihn hierfür sicher getadelt. Aber trotzdem: Drohte nicht die Gefahr, dass viele seiner Kunden das Vertrauen zu ihm verloren? Er nahm noch einen großen Schluck Tee. Vielleicht war ja alles nicht so schlimm. Und wenn es knüppeldick kam, würde ihm der Bürgermeister doch sicherlich aus der Patsche helfen.
Doch immer und immer wieder kehrten Ganshagels Gedanken zu der toten Luisa-Maria zurück. Welcher Seminarteilnehmer hatte sie ermordet? Solch eine brutale Tat konnte er sich bei keinem so recht vorstellen. Und was zum Teufel war ihm an der Frau aufgefallen, als er sie lebend unten im Ort gesehen hatte? Ganshagel fasste einen Entschluss. Er wollte nochmals zu der Stelle gehen, an der er mit ihr zusammengestoßen war. Vielleicht hatte er Glück, und die Erinnerung kam in dieser Umgebung wieder zurück.
Ganshagel verließ das Haus. Das Lebensmittelgeschäft in der Wettersteinstraße, in dem er vorgestern eingekauft hatte, war keine zehn Minuten von seiner Wohnung entfernt. Alles in diesem Kurort war keine zehn Minuten entfernt. Als er an der bewussten Stelle angekommen war, versuchte er, mit den Lippen die Worte zu formen, die er vorgestern gesagt hatte. Vergeblich. – Noch ein Versuch. – Es ging einfach nicht. Es dauerte nicht lange, da wurde er angesprochen. Er war spätestens seit dem Abdruck seines Fotos im heutigen Morgenblatt eine bekannte Persönlichkeit im Ort.
»Hast du dein Bild in der Zeitung gesehen, Gansi?«
Einen kleinen Ratsch mit dem pensionierten Amtsrat Josef Gönnewein konnte er nicht abschlagen.
»Hast du dein Bild in der Zeitung gesehen, Gansi?«
Einem etwas längeren Ratsch mit der Sittl Elisabeth kam er ebenfalls nicht aus, das war so eine, zu der man nicht einfach sagen konnte: Lass mich in Ruh, ich muss mich konzentrieren!
»Hast du dein Bild in der Zeitung gesehen, Gansi?«
Das war der Berger Ottfried. Der erlöste ihn wenigstens von der Sittl Elisabeth.
»Ja grüß dich, Ottfried! Nein, das hab ich noch nicht gesehen, zeig her.«
»Gut bist du getroffen, Gansi!«
Er kam nicht dazu, sich zu konzentrieren. Rainer Ganshagel war, obwohl er eigentlich immer bloß zum Einkaufen herunterkam, ausgesprochen beliebt im Ort. Man verzieh ihm, dass er in keinem einzigen örtlichen Verein war – normalerweise war das der soziale Todesstoß. Man wusste, dass Ganshagel am Donnerstag immer einen festen Termin hatte. Da holte er seinen Sohn von der Schule ab, einmal in der Woche nahm er sein Besuchsrecht in Anspruch, und jedermann konnte sehen, wie er mit dem Kleinen freudig zum Spielplatz ging, wie er ihm liebevoll den Unterschied zwischen dem Raaz-Raaz eines Rallenspreizers und dem Gu-ak! Gu-ak! eines Purpurlöfflers erklärte. Wie er mit ihm durch den Ort schlenderte und wie er ihn schließlich, immer um fünf, zur Klavierstunde brachte, von der ihn dann, um sechs, seine Geschiedene wieder abholte. Der Klavierunterricht war sozusagen die soziale Schleuse zwischen einem aufgebrachten Ehepaar. In diesem speziellen Ganshagel-Fall schlugen sich viele auf die Seite des Vaters. Ein ganz furchtbar lieber Mensch wäre er, hieß es.
»Ja grüß dich Gott, Gansi«, sagte der Postbote Müllermeier, ehrenamtlich zweiter Vorsitzender des Volkstrachtenvereins. »Eines muss ich dir einmal sagen: Schön, dass einer wie du das alte Brauchtum noch aufrechterhält. Eine Alm nach der anderen macht doch zu! Bald gibt es keinen Almabtrieb mehr, keine geschmückten Kühe! Der Hüttenkäse: inzwischen ein Witz. Solche wie dich müsste es mehr geben. Hoffentlich fassen sie den Saubazi, den verreckten, bald. Und hoffentlich kannst du bald wieder rauf auf deine Alm!«
»Ja, das hoffe ich auch, Müllermeier.«
Ganshagel stand immer noch genau an der Stelle, an der er mit der
Weitere Kostenlose Bücher