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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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erblickte. Einer nach dem anderen trudelte ein, stellte seinen Wasserkessel auf, wechselte ahnungslos ein paar müde, aber freundliche Worte. Wie würden sie morgen hier stehen? Würden wir noch dabei sein? Es hob meine Stimmung keineswegs, dass Henrys wehmütiges Gesicht meine eigenen Gefühle auf unheimlichste Weise widerspiegelte.
    Sag ab! Sag ab! Sag ab! , versuchte ich ihm zu übermitteln, aber er senkte nur den Kopf.
    »Bin ich froh, dass wir diese Woche Plusgrade haben«, meinte Nora. »Eine volle Stunde im Hemd vor der Schneiderin zu stehe n … ich weiß nicht, ob die Aussicht auf mein Kleid mich ausreichend gewärmt hätte.«
    Die anderen lachte n – ich selbst zu meiner eigenen Überraschung auch. Dass ich Noras Hochzeit verpassen würde, vermochte ich mir so wenig vorzustellen, dass ich schon beinahe wieder Mut fasste. Bevor Henry und ich aufbrachen, hätte ich dennoch gern ein passendes letztes Wort hinterlassen, aber mir fiel nichts ein.
    Dafür drehte Henry sich noch einmal um, ließ den Blick durch die Küche schweifen und sagte zu niemand Bestimmtem: »Alles Gute für euch.«
    Doch keiner achtete auf ihn. Typisc h – erst hinterher fallen die Erwachsenen immer aus allen Wolken! Die Haustür schlug hinter uns zu, Henry atmete tief aus und verriet: »Na gut. Er wohnt in Lüneburg.«
    Ich entdeckte Gustav vor dem Bahnhof. Er wirkte enttäuscht, mich in Begleitung von Henry zu sehe n – fast, als hätte er mir etwas sagen wollen, und dass ich es nun möglicherweise nie erfahren würde, versetzte meinem wiedergewonnenen Mut erneut einen Dämpfer.
    Der nächste Dämpfer war Ooti, die nur eine halbe Stunde nach uns mit ihrem Onkel-Jan-Schild auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig auftauchte. Es tat weh, ihr zuzusehen, wie sie allein in der Kälte wartete. Nach kurzer Zeit gesellten sich weitere beschilderte Frauen zu ihr, die sie bereits zu kennen schien, denn sie unterhielten sich angeregt, während sie fröstelnd von einem Fuß auf den anderen traten.
    »Wenn ein Zug mit Onkel Jan ankommt, fahren wir nicht, oder?«, fragte ich hoffnungsvoll.
    »Es kommt kein Zug mit Onkel Jan«, antwortete Henry.
    »Woher willst du das wissen? Und jetzt komm mir bloß nicht wieder mit Wahrscheinlichkeitsrechnung!«
    »Es kommt kein Zug mit Onkel Jan, weil seine Einheit komplett vernichtet worden ist. Foor hat es Mem gesagt, als er zum letzten Mal auf Heimaturlaub war.«
    »Aber waru m …« Entsetzt starrte ich zu Ooti hinüber, die mit den anderen Frauen plaudert e – an ihr Schild mit dem Bild von Onkel Jan gelehnt, als wäre es seine Schulter.
    »Foor wollte versuchen, Näheres herauszufinden, bevor er mit Ooti spricht, aber dann kam er selbst nicht wieder. Mem meint, Ooti soll es erst erfahren, wenn wenigstens ihr zweiter Sohn zurück ist.«
    »Und wenn sie in der Kälte krank wird?«, fragte ich vorwurfsvoll.
    »Wenn es richtig kalt wird, kommen keine Züge mehr«, erinnerte mich Henry.
    Danach konnte ich Ooti erst recht nicht mehr zusehen und drehte mich zum anderen Bahnsteig um, wo weitere Menschentrauben warteten. In Henrys Schultasche steckten zwei Fahrkarten nach Lüneburg, aber es gab noch immer keinen Fahrplan, nur die Zusage, dass der Zug irgendwann am Vormittag eintreffen würde.
    »Gibt es noch mehr, was ihr uns verschwiegen habt?«, fragte ich.
    Henry dachte nach. »Glaub nicht«, meinte er nach einer Weile, aber das mochte auch nur für ihn gelten. Was Mem betraf, so wusste ich langsam nicht mehr, wie sie eigentlich den Überblick behielt über all ihre Geheimnisse. Ich an ihrer Stelle hätte längst eine Liste führen müssen, wem ich welche Ausrede aufgetischt hatte.
    Vom Haupteingang aus näherten sich kurz darauf zwei Polizisten und gingen den Bahnsteig entlang; ich starrte sie beschwörend an, damit sie stehen blieben und untersuchten, warum wir eine Schultasche mit uns führten, obwohl wir augenscheinlich nicht auf dem Weg zur Schule waren. Henry wurde vor Nervosität so zappelig, dass ich die Patronen in seiner Tasche förmlich klimpern hörte, aber die Polizisten schlenderten nur vorbei und sahen nicht einmal zu uns hin. Kein Wunder, dass in Hamburg das Verbrechen blühte! Keine zehn Minuten später kam unser Zug und ein Schwall Menschen spülte uns unbarmherzig in ein Stehabteil, in dem ich für die gesamte Dauer der Fahrt damit beschäftigt war, mit meinen Krücken Halt zu finden.
    Erst nach dem Aussteigen erfuhr ich den Plan, und ich erfuhr, dass Henry zwar die Pistole nicht ausprobiert,

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