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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Erinnerung rufen, was Sie getan haben«, ergriff er gestelzt das Wort, als hätte er seine Ansprache vorher auswendig gelernt.
    »Ist die geladen?«, fragte der Mann ungläubig. Ich nickte ihm verzweifelt zu, aber er schien noch immer nicht zu verstehen, seine Augenbraue zuckte zwar, aber weniger aus Angst denn aus Erstaunen. »Ihr seid doch die kleinen Sievers?«, vergewisserte er sich. »Aus dem Dorfladen?«
    Der Mann, den wir für den Verräter hielten, hatte offenbar nicht die geringste Ahnung, warum wir hier waren!
    »Wir haben Sie an dem Morgen gesehen«, sagte Henry ungeduldig. »Sie waren am Funkgerät in der Apotheke, direkt bevor von dort der Funkspruch an die Engländer abging, sie sollten angreifen. Sie haben uns alle verraten, um Ihre eigene Haut zu retten!«
    Ich sah Henry verdutzt an. Mein Bruder konnte eine echte Nervensäge sein, wenn jemand die Dinge nicht haargenau so darstellte, wie sie waren, und ich hatte nicht erwartet, dass er zu solch unpräzisen Aussagen imstande war. Weder er noch ich hatten den Verräter am Funkgerät gesehen; was wir gesehen hatten, war bloß, dass der Mann zur fraglichen Zeit dort gewesen war, wo das Funkgerät sich angeblich befunden hatte. Henry wäre der Erste gewesen, von dem ich erwartet hätte, dass er jemanden, der behauptete, einen anderen am Funkgerät gesehen zu haben, sofort darauf aufmerksam gemacht haben würde, dass er sich bitte an die Fakten halten solle.
    »Und deshalb werden Sie jetzt sterben«, erklärte Henry.
    Der Mann tat das einzig Vernünftige und ging endlich auf der anderen Seite der Tonnen in Deckung. Wir hörten ihn atmen, und unter den nicht zu beruhigenden Lüneburger Hunden schien sich die Sache immer noch herumzusprechen, aber ansonsten blieb die Straße wie ausgestorben. Wir hockten auf einer Seite des Verschlags, der Verräter auf der anderen, und Henry flüsterte: »Scheiße.«
    Wenn man als Geisel genommen, von einer Pistole bedroht oder sonst wie in die Enge getrieben ist, sollte man versuchen, seinen Feind in ein Gespräch zu verwickel n – ein bekannter Ratschlag, den der Verräter unverzüglich beherzigte.
    »Ich habe nichts verraten«, holte er aus. »Die Inselbesatzung hatte den Putsch schon geahnt, wir waren seit Wochen unter Beobachtung. Ein kleiner Fähnrich soll die Nerven verloren und gebeichtet haben, aber wer das gewesen sein soll? Es waren ja so viele eingeweiht, dass man es gar nicht von allen wusste.«
    »Aber Sie haben den Funkspruch abgeschickt.« Henry lehnte mit der Schulter an den Mülltonnen und lauschte, die Pistole in die Luft gerichtet. Sein Arm, der sie hielt, zitterte so sehr, dass ich befürchtete, das Ding könnte jeden Augenblick wieder losgehen.
    »Ich habe den Tommys durchgegeben, dass wir aufgeflogen sind, ja. Aber ich habe niemanden aufgefordert anzugreifen. Das ist ein verdammtes Gerücht!«
    »Es war doch sonnenklar, dass die angreifen, wenn Sie durchgebe n …«, begann Henry, aber der Mann unterbrach: »Junge, verstehst du noch immer nicht? Die Engländer wollten längst angreifen! Es wäre sowieso passiert! Nur weil wir mit ihnen Kontakt aufgenommen hatten, um die Besatzung zu überwältigen und die Insel kampflos zu übergeben, haben sie sich überhaupt darauf eingelassen abzuwarten.«
    Henry begann auf seinen Lippen zu kauen. Er wirkte mit einem Mal so nervös, dass ich mir am liebsten Augen und Ohren zugehalten hätte.
    »Nachdem sie uns verhaftet hatten, gab es nur noch eine Chance, Helgoland zu retten, und die lag in einem Ausbruch während des Angriffs«, fuhr der Mann fort. »Wir haben es weiß Gott versucht, aber der Einzige, der rausgekommen ist, bin ich, weil direkt auf meine Zelle eine Bombe fiel.«
    Mensch, dachte ich, er war es nicht!, und Erleichterung rollte auf mich zu wie eine riesige Welle.
    Doch Henry blieb hartnäckig: »Wir haben Sie aber später im Bunker gesehen!«
    »Da bin ich untergetaucht, weil ich damit rechnete, dass sie nach mir suchten. Aber anscheinend haben sie mich über dem Angriff glatt vergessen! Ich hab mir im Lazarett einen blutigen Verband um den Kopf gewickelt und bin mit den Verwundeten evakuiert worden. Dr . Kropatscheck hat mich noch gesehen und sich bestimmt seinen Teil gedacht, aber der hat nichts verraten, der hat mir nur Glück gewünscht.«
    Es muss der Name von Dr . Kropatscheck gewesen sein, der Henry mattsetzte. Im nächsten Augenblick tauchte der Mann direkt neben uns auf und streckte die Hand nach der Pistole aus.
    »Mach dich nicht

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