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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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alles andere jedoch keineswegs dem Zufall überlassen hatte. Dreimal war er in Lüneburg gewesen, um den Verräter auszukundschaften und herauszubekommen, dass der Mann Nachtschicht arbeitete und tagsüber zu Hause war.
    »Wenn seine Frau einkaufen geht, ist er allein«, wusste Henry.
    »Seine Frau?«, wiederholte ich und wieder spiegelte sich mein eigenes Unbehagen im Gesicht meines Bruders, bevor er antwortete: »Er ist mit einer Helgoländerin verheiratet.«
    Ich blieb stehen.
    »Was spielt das für eine Rolle?«, fragte Henry gereizt. »Umso schlimmer ist, was er getan hat!«
    Als ich später versuchte, mich an Lüneburg zu erinnern, sah ich nicht eine einzige Straße vor mir, nur das kleine braune Haus, vor dem wir schließlich haltmachten und dessen unschuldige Fenster uns anklagend dabei zusahen, wie wir hinter einem Verschlag mit Mülltonnen in Deckung gingen. Henrys Plan war, an der Haustür zu klingeln und den Verräter mit einem Brief herauszulocken. Den Brief hatte er schon geschrieben: Wenn Sie dies lesen, ist eine Pistole auf Sie gerichtet. Gehen Sie langsam auf die Mülltonnen zu, dort erhalten Sie weitere Anweisungen.
    »Was denn für Anweisungen?«, fragte ich oder vielmehr: Ich hörte es mich fragen, während ich mich beim Hocken hinter den Mülltonnen beobachtete. Es fühlte sich an wie einer dieser verrückten Träume, von denen man noch im Schlaf merkt, dass das alles gar nicht wahr sein kann und man jeden Augenblick aufwachen müsste.
    »Keine, aber wir müssen ihn doch irgendwie aus dem Haus bekommen«, meinte Henry.
    Er öffnete seine Schultasche und zum ersten Mal sah ich die Waffe. Sie wirkte weit weniger alt und verrostet, als Wim behauptet hatte. Geschickt öffnete Henry einen Ring, in dem lauter kleine Kammern waren, und begann in seiner Patronensammlung zu kramen.
    »Das kann aber nicht von selbst losgehen, oder?«, fragte ich mit einem Piepsen, das nur noch entfernt an meine Stimme erinnerte, vor allem als ich erkannte, dass zwei Patronen in den Ring passten, als wäre er geradezu für sie gemacht.
    »Erst wenn die Waffe entsichert ist«, erklärte Henry.
    Mit einem drohenden Knacken signalisierte die Pistole ihre Bereitschaft, im nächsten Augenblick wurde sie mir schon in die Hand gedrückt und ich fiel in den Teil meines Traums, in dem man losrennen müsste, sich aber überhaupt nicht mehr rühren kann.
    »Ziel vorsichtshalber in die Luft!«, befahl mein Bruder. »Ich laufe zur Tür und klingle, dann komme ich zurück und übernehme.«
    Er blickte kurz nach rechts und links, aber der Verräter hatte sich eine der ausgestorbensten Straßen dieser Stadt zum Wohnort auserkoren. Geduckt lief Henry auf das Haus zu, um zu klingeln und seinen Brief auf der Türmatte zu deponieren.
    Währenddessen reckte ich gehorsam die Pistole in die Luft. Sie war schwerer, als ich erwartet hatte, der Griff lag kalt und hart in meiner Hand. Man musste den Zeigefinger weit strecken, um den Abzug zu berühren, geschweige denn den Finger darumzulegen, was möglicherweise bedeutete, dass mein Bruder überhaupt nich t …
    PENG! Der Knall war so durchdringend, dass ich vor Schreck auf den Rücken fiel. Über mir brachte sich eine kreischende, flatternde Mischung aus Tauben, Krähen, Spatzen- und Meisenvolk in einem einzigen großen Schwarm überstürzt in Sicherheit, ein großer Hund begann hysterisch zu bellen, dann folgten andere, weiter entfernt.
    Genau wie damals. Mit aufgerissenen Augen starrte ich in den kühlen grauen Himmel, gelähmt von dem Wissen, dass Greta hinter mir lag und nur noch ein halbes Gesicht hatte, dass jeden Augenblick Henry über mir auftauchen und lautlos den Mund bewegen würde. Dann würde alles schwarz werden, nicht plötzlich, sondern von den Rändern her, und wenn ich aufwachte, würde Dr . Kropatscheck an meinem Bett sitzen und sage n …
    Henry tauchte über mir auf, riss an meinem Arm und rief: »Gib mir die Pistole.«
    Etwas wurde mir abgenommen und mein Arm wurde leicht, meine Beine wurden leicht, mein Kopf schwebt e – schwebte über einer Wiese und ich merkte, dass ich hinter Henry herkroch, ein Gefühl wie Watte zwischen den Ohren. Das Haus, die Mülltonne n … benommen schüttelte ich mich und sah einen Mann aus der Tür treten, der auf uns zukam und einen Schatten über mich warf.
    »Ihr?«, fragte er völlig verblüfft.
    In Deckung! , wollte ich ihm zurufen, aber ich brachte keinen Ton heraus.
    Henry hielt die Pistole auf ihn gerichtet.
    »Ich muss Ihnen wohl nicht in

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