Unterland
unglücklich, mein Junge«, sagte der Verräter.
Hätte ich nicht an mir heruntergesehen, hätte ich glauben können, mein Bein sei wieder komplett. Nichts täte mehr weh, krückte oder tockte, es war, als schwebte ich so leicht und mühelos über die Straße wie alle anderen. Als gäbe es keinen Winter, als wäre ich an diesem Morgen satt geworden, als wäre Foor zu uns zurückgekehrt, Onkel Jan von seinem Schild gesprungen und wir alle zusammen nach kurzer Überfahrt wieder zu Hause.
Alles, alles schien möglic h – jetzt, wo der Verräter hinter uns lag. Ein riesiger Trümmerhaufen war beiseitegeräumt und darunter tauchte ein helles, funkelndes Schloss auf.
»Pass mal auf, das wird der Reißer«, sagte ich zu Henry, um ihn aufzumuntern. »Darüber kannst du schreiben in James’ Zeitung, dann wissen endlich alle, was los war!«
Mein Bruder schwieg. Er hatte überhaupt noch nichts gesagt, seit der Mann, den wir für den Verräter gehalten hatten, ihm die Pistole abgenommen, entladen und erklärt hatte: »Die kann sich euer Foor jederzeit bei mir abholen.«
»Mensch, Henr y … glaubst du etwa nicht, dass er die Wahrheit sagt?«
»Ich glaube«, sagte er leise, »dass jemand für das alles bezahlen muss. Wenn er es nicht war, wer war es dann?«
»Hör mal, wir hätten fast den Falschen erwischt, wir können froh sei n …«, begann ich, aber Henry schnitt mir das Wort ab. »Ich hab immer gewusst, dass du nicht kapiert hast, worum es eigentlich ging«, sagte er, und zum ersten Mal, seit ich an Krücken ging, lief er schneller und ließ mich zurückfallen.
Erst am Bahnhof holte ich ihn wieder ein. »Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich geschossen«, behauptete er verbissen, noch bevor ich überhaupt den Mund aufgemacht hatte.
»Ja, auf den Falschen!«
»Woher wissen wir das? Der hätte doch alles behauptet, um sein Leben zu retten!« Plötzlich brüllte er mich an: »Wer uns das angetan hat, darf doch nicht einfach davonkommen!«
Aufgebracht lief Henry am Bahnsteig auf und ab, während wir auf den Zug warteten, und je länger ich ihn beobachtete, desto weniger blieb übrig von meiner Erleichterung, davongekommen zu sein. Die Wut, die in jedem seiner Schritte lag, konnte nur bedeuten, dass die Geschichte für meinen Bruder keineswegs vorbei war.
Weder Mem noch Ooti merkten, dass wir woanders als in der Schule gewesen waren. Dies, obwohl wir erst am frühen Abend zurückkehrten und uns mit wahrem Heißhunger auf unsere beiden Schnitten Brot mit der unvermeidlichen Rübenscheibe stürzten! Sofort argwöhnten sämtliche Frauen, dass nun auch die Schulsuppe weniger Kalorien enthielt, als sie uns weismachen wollten.
Der »Kalorienschwindel« war das neue Dauerthema in der Küche. Ooti und die Wranitzky hatten beim Schlangestehen erfahren, dass 10 0 Gramm Brot, die offiziell 24 5 Kalorien enthielten, wegen der Beimischung von Mais-, Gersten- und Kalkmehl in Wahrheit nur noch höchstens 21 4 Kalorien hatten, wir also klammheimlich Tag für Tag um mindestens 3 0 Kalorien betrogen wurden, die uns laut Lebensmittelkarte zustande n – ganz abgesehen von den Bauchschmerzen, die das unbekömmliche Brot verursachte. Darüber konnten sie sich so ausgiebig ereifern und gegenseitig anstacheln, dass niemand auf den Gedanken kam zu fragen, was wir den ganzen Nachmittag getrieben hatten.
»Selbst bei den Tommys gibt es immer weniger zu essen«, klagte Mem. »Nicht, dass sie auf die Idee komme n …«
Sie brach ab, aber die Frauen nickten stumm, sie konnten sich denken, was Mem befürchtete: Wenn es auch für die Tommys immer weniger gab, wozu brauchten sie noch eine Köchin?
»Sollte unsere herrliche Militärregierung es tatsächlich fertigbringen, mitten im Winter unsere Elektrizitätskraftwerke zu demontieren, kann uns der Hunger bald egal sein«, ätzte Herr Helmand. »Dann werden wir nämlich erfrieren.«
Herr Helmands Dauerthema, für das ihm jedes Stichwort recht war, war nicht der Kalorienschwindel, sondern die unfähige Besatzungsmacht. Meine Mutter ergriff inzwischen die Flucht, sobald sie ihn näher kommen hörte, und bevor wir in die Küche gingen, fragte sie mittlerweile argwöhnisch: »Ist er drin?«
»Er steht am Fenster, wenn ich nachts mit Colin zurückkomme«, hatte sie uns anvertraut. »Immer. Jedes Mal! Langsam wird er mir unheimlich.«
Aber kam Herr Helmand, wie an diesem Abend, erst in die Küche, wenn Mem bereits dort war, gab es kein Entrinnen.
»Mich würde interessieren, was Ihr Captain
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