Unterland
zu all dem zu sagen hat«, setzte er ihr zu, »und ob es wahr ist, dass sie uns zur Zwangsarbeit karren werden. Freiwillig wird kein guter Deutscher Hand anlegen bei dieser selbstmörderischen Aktion!«
»Niemand wird Sie zur Zwangsarbeit karren, Herr Helmand«, sagte Mem und rührte scheppernd in unserer Kohlsuppe. »Von allen vier Besatzungsmächten haben wir nämlich die anständigste erwischt.«
»Da würde mich doch brennend interessieren, ob Ihr werter Gatte, der Zwangsarbeiter, das ebenso sieht«, entgegnete Herr Helmand sofort und Mem holte tief Luft, aber Nora rief: »Ihr Lieben! Nicht heute! Bitte!«
»Wie war denn deine Anprobe?«, fragte ich rasch, um ihr zu Hilfe zu kommen.
»Danke, Alice. Ich dachte schon, es interessiert niemanden!«, meinte sie und setzte mit verschwörerischem Lächeln hinzu: »Mein Kleid ist ein Traum. Ein Traum!«
Ich hab’s doch gewusst, dachte ich überwältigt. Ich hab’s doch gewusst, dass ich es nicht verpasse!
»Kannst du es nicht mal anziehen?«, fragte ich sehnsüchtig und wies auf den schmalen Karton, den sie mitgebracht hatte, als sie mit Wim und Herrn Helmand die Küche betrat.
Aber Nora schüttelte lächelnd den Kopf und schob den Karton zu mir hinüber.
»Meins«, sagte sie, »ist noch gar nicht fertig.«
Es wurde still. Mem verstand als Erste. »Frau Wollank«, sagte sie leise, »das können wir nicht annehmen.«
»Mach doch erst mal auf!«, forderte Nora mich auf. »Vielleicht gefällt es dir gar nicht.«
Ich saß wie erstarrt.
»Frau Wollank«, setzte Mem von Neuem an.
»Bitte! Ihre Alice ist ein bezauberndes Mädchen, sie soll doch etwas Hübsches anzuziehen haben, wenn sie auf unserer Hochzeit tanzt.«
Meine beiden Hände legten sich um den Deckel des Kartons. Er gab ein saugendes Geräusch von sich, als ich ihn anhob, ich sah einen glänzenden blaugrünen Stoff und hörte Henry sagen: »Alice tanzt nicht.«
»Ich fürchte, es ist nur Fallschirmseide«, bekannte Nora, »aber als ich es sah, dachte ic h …«
»Meine Mutter will mich zum Tanzen kriegen, das ist alles!«, meinte Wim.
Vorsichtig, als handelte es sich um eine Bombe, hob ich die Hände und der weiche Fallschirmstoff zerfloss zu einem federleichten Etwas mit Rüschen und zwei Zierknöpfen am Halsausschnitt.
»Ich finde es entzückend«, sagte Nora, zusehends beunruhigt über die merkwürdige Stimmung, die ihr Geschenk hervorgerufen hatte. »Bitte, Frau Sievers, nehmen Sie es doch an. Sie würden mir einen Gefallen tun, nicht umgekehrt!«
Mem sah mich an. Du oder ich?, schien sie zu fragen.
»Gefällt es dir denn nicht?« Die arme Nora konnte es nicht fassen.
»Ic h … ich geh mal kurz rüber und probiere«, sagte ich hastig, um sie nicht im Stich zu lassen. »E s … es gefällt mir scho n …«
Ich warf mir das Kleid über den Ar m – es wog so gut wie nichts.
»Da bin ich ja mal gespannt«, schnarrte die Wranitzky, aber wenn mich nicht alles täuschte, warf sie mir einen wohlwollenden Blick zu, als ich an ihr vorbeikrückte.
Dem Kleidertragen habe ich nie hinterhergeweint. Bis ich aus dem Krankenhaus kam, war es Herbst geworden und das Hosentragen empfohlen, weil ich den Stumpf warm halten sollte. Im folgenden Frühjahr passten meine Kleider nicht mehr, Mem verschenkte sie in der Nachbarschaft und ich fragte nie mehr danach. Ich war das einzige Helgoländer Mädchen, das ausschließlich Hosen trug und von deren Vorteil inzwischen restlos überzeugt war.
Daran änderte auch ein hübsches Kleid aus blaugrüner Fallschirmseide nichts. Es war so leicht, dass ich mich nahezu nackt fühlte; schaudernd blickte ich auf die Gänsehaut an Armen und Beinen und sah mich wieder einmal darin bestätigt, dass Kleidertragen überschätzt wird. Innerhalb von Sekunden besaß ich nur noch ein einziges Körperteil, das nicht fror, und das war mein Kunstbein, dessen Schnallen überrascht unter dem Saum ins Freie schauten.
Das Kunstbein selbst sah indes nicht halb so befremdlich aus wie meine Füße. Orthopädische Schuhe sind eindeutig nicht der passende Begleiter zu einem Festkleid und ich fühlte, dass ich den zweiten Trümmerhaufen in meinem Leben besser ganz schnell in Angriff nahm, bevor ich anfing nachzudenken. Offenbar sollte dies der Tag der Wahrheiten werden.
Nora enttäuschte mich. Sie ließ mich komplett im Stich. Es mag ein Schock sein, jemanden unversehens mit einer Beinprothese zu erblicken, von der kein Mensch zuvor ein Sterbenswörtchen erwähnt ha t … aber ist das ein
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