Unterland
Grund, die Hand vor den Mund zu schlagen? Tränen schossen ihr in die Augen und ich musste wegsehen; es tat fast so weh wie damals, als Foor mich zum ersten Mal mit meinen Krücken erblickte und heulen musste, obwohl ich wie verrückt geübt hatte, um ihm zu zeigen, dass ich schon ein ganzes Stück laufen konnte.
Im Gegensatz zu damals wurde ich diesmal allerdings ziemlich wütend. Es gibt ein paar Dinge, die wir Kunstbeinträger nicht mehr können oder für die wir länger brauchen als früher, aber na und? Wer braucht schon Seilspringen! Wenn ich alles versuche, was ich vielleicht kann, dann bleiben immer noch eine ganze Menge Möglichkeiten übrig, auf die mancher andere nicht einmal kommen würd e – ob mit zwei, drei oder vier Beinen.
Der Anblick einer Prothese ist kein Grund zu heulen! Das hätte ich Nora am liebsten gesagt, aber ich brauchte es nicht.
»Also, die Schuhe gehen gar nicht«, sagte Wim in die Stille hinein. »Mit dem Res t …«
Ich sah ihn streng an. Ein schiefes Grinsen und das war’s, dachte ich.
»Mit dem Rest könnte ich mich anfreunden«, meinte Wim und errötete leicht, und Wärme durchschoss mich bis in die Spitzen meiner orthopädischen Schuhe; Schwester Angela wäre begeistert gewesen.
Lange auskosten konnte ich es allerdings nicht.
»Na, dann fordere sie doch mal auf!«, rief Herr Helmand und gab Wim einen aufmunternden Schubs. »Nee!«, protestierten wir beide in hellem Entsetzen und ich flüchtete zurück auf meinen Platz auf der Bank.
Wie sich herausstellte, hatte Herr Helmand aber lediglich wieder ein Stichwort für sich selbst eingeworfen, um seinerseits Nora um ein Tänzchen in der Küche bitten zu können, oder vielmehr: hartnäckig darauf zu bestehen, bis sie nachgab und sich von ihm ein paar Runden herumschieben ließ. Wir atmeten alle auf, als es vorbei war, denn ihr Widerwillen stand in so deutlichem Kontrast zu der Hingabe, mit der er den Schneewalzer summte und sie am Arm riss, dass selbst Wim die Stirn runzelte.
In Wahrheit, dachte ich, während ich vergeblich versuchte, möglichst nicht in seine Richtung zu blicken, hat Wim mir das Kleid geschenkt und nicht Nora! Schließlich ist er es, der in dieser Familie das Geld verdient.
Mem beugte sich zu mir hinüber. »Möchtest du nicht etwas Wärmeres anziehen?«
»Ach«, meinte ich, »ich behalte es noch ein Weilchen an, zum Gewöhnen.«
Später, als wir zurück in unserem Zimmer waren, spiegelte ich mich verstohlen im erleuchteten Fenster. Ob Wim wirklich wagen würde, mich zum Tanzen aufzufordern? Ein kleiner Rest des schwebenden Gefühls, das mich auf dem Heimweg von Lüneburg begleitet hatte, steckte noch in meinen Gliedern; ich biss die Zähne zusammen und tat ohne die Krücken mehrere vorsichtige kleine Schritte zur Seite. Es tat weh, war aber auszuhalten. Ein, zwei Tänze ohne größere Drehungen waren da schon drin!
In der Fensterscheibe sah ich jedoch nicht nur mich selbst, ich sah auch Henry, der mich beobachtete. Sein Gesichtsausdruck war nicht zu erkennen, aber ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass er sich nicht mit mir freute.
»Das geht nicht gut«, hörte ich Mem in meinem Rücken sagen und glaubte einen Augenblick, sie meinte mich! »Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich, dass dieser Helmand etwas zu verbergen hat.«
»Psst, bist du wohl still!« Ooti war entsetzt.
»Colin sagt, es ist praktisch unmöglich, die weniger prominenten Nazis aufzuspüren. So viele haben alles verloren, ihre Papiere eingeschlosse n … da ist es leicht, eine neue Identität anzunehmen.«
»Hör mal, Wilma«, erwiderte Ooti scharf. »Das Zusammenleben mit Herrn Helmand mag dir nicht angenehm sein, selbst Frau Wollank scheint sich ja noch nicht an ihn gewöhnt zu haben. Aber du glaubst doch nicht, dass dieser furchtsame kleine Mann einer Maus etwas zuleide tun könnte!«
»Einer Maus vielleicht nicht«, sagte Mem. »Wieso hat er solche Angst?«
»Weil er schreckliche Dinge erlebt hat. Sei so gut und behalte deine Verdächtigungen für dich, sonst tut es uns allen am Ende noch leid. Kinder, vergesst bitte ganz schnell, was eure Mutter gerade gesagt hat!«
»Wir sind nicht blöd, Ooti«, antwortete Henry, das Einzige, was er an diesem Abend zum Gespräch beitrug, bevor er sich wieder seinem Buch zuwandte.
»Herr Helmand wohnt erst seit vier Wochen hier«, protestierte ich. »Nora wird sich schon an ihn gewöhnen und Wim mag ihn!«
»Und dieser Junge hatte bisher immer den richtigen
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