Unterland
Riecher!«, meinte Ooti nachdrücklich und Mem stimmte, wenn auch zögernd, zu. Wims Vertrauen zu »Richard« musste jeden überzeugen.
18
Ich erinnerte mich kaum an Onkel Jan. Sein lautes Lachen stand noch lebhaft vor mir, das mich als kleines Kind zu Tränen erschrecken konnte. Ich wusste auch noch genau, wie beleidigt ich gewesen war, als sich herausstellte, dass er Henry heimlich das Schwimmen beigebracht hatte. Ein Dreivierteljahr, bis zum nächsten Sommer, musste ich mit der Schmach zurechtkommen, dass mein Bruder schwimmen konnte und ich nicht! Dann zeigten es mir die größeren Mädchen, weil inzwischen der Krieg ausgebrochen war und die Männer an die Front mussten.
Ich erinnerte mich kaum an Onkel Jan, aber ich hatte immer gespürt, dass er weder von einem Schild mit der Aufschrift Wer kennt Jan Sievers? herabschauen noch seine Mutter mit diesem Schild in der Kälte würde stehen sehen wollen. Er hätte es gehasst, da war ich ganz sicher. Darüber brauchte ich nicht einmal nachzudenken.
Die Schilder hatten sich vermehrt, seit ich das letzte Mal mit Ooti auf dem Bahnsteig gestanden hatte. Hamburg hatte eine Zuzugssperre für Flüchtlinge erlassen, aber Einheimische, die sich während des Krieges vor den Bomben aufs Land gerettet hatten, kehrten immer noch in großen Zahlen zurück aus den jetzt amerikanischen, französischen oder russischen Zonen. Fast jeder vermisste jemanden. Hätte Ooti nicht eine Art Stammplatz in einer kleinen, festen Gruppe von Müttern, Ehefrauen und Bräuten gehabt, mit denen sie sich Tag für Tag hier einfand, hätte ich sie vielleicht gar nicht gefunden.
Ich hatte Glück: Den Heimkehrerzug, der kurz zuvor eingetroffen sein musste, hatte ich verpasst. Keine Tränen, kein Geschrei, kein Schubsen. Nur einige ausgemergelte Gestalten, die in der Vorhalle standen und sich noch nicht ins Freie traute n – Soldaten, die Krieg, Gefangennahme, Lager oder Zwangsarbeit überstanden hatten, nur um festzustellen, dass niemand mehr auf sie wartete.
Einige Frauen mit Schildern kamen mir entgegen, aber die meisten standen noch auf dem Bahnsteig, traten von einem Fuß auf den anderen und mochten sich nicht trennen. Schließlich kamen zwischendurch auch Heimkehrer in normalen Personenzügen an; Soldaten, die in eine andere Zone entlassen worden waren und sich auf eigene Faust in die Heimatstädte durchschlugen.
Ich hätte lieber zu Hause und in aller Ruhe mit Ooti gesprochen, aber es war so gut wie unmöglich geworden, dort unter vier Augen zu reden. Erstaunt und ein wenig befremdet sah sie mir entgegen.
»Alice, warum bist du nicht in der Schule?«
»Die Schule ist ausgefallen, weil niemand Briketts dabeihatte. Wir sollen unsere Aufgaben wieder jeden Tag abholen und zu Hause arbeiten.«
»Und die Schulspeisung?«
»Fällt nicht aus. Wer mittags kommt, kriegt auch eine Suppe.«
Wenn man nicht von einem Bein aufs andere treten kann, greift die Kälte augenblicklich an. Dann kann man förmlich spüren, wie sie die Knochen entlangklettert, und an zehn Fingern abzählen, wie viel Zeit bleibt, bis die Zähne klappern und man kein verständliches Wort mehr herausbringt.
»Es kann sein, dass Onkel Jan nicht mehr kommt, Ooti«, sagte ich ohne Umschweife. »Foor hat schon vor zwei Jahren erfahren, dass seine Einheit vernichtet worden ist. Er ist nur nicht mehr dazu gekommen, Genaueres herauszufinden und es dir zu sagen.«
Ooti sagte nichts. Sie sah mich nicht einmal an. Eine der anderen Frauen jedoch hatte mich verstanden, obwohl ich Halunder gesprochen hatte, und widersprach: »Wenn sie die Erkennungsmarke nicht zugeschickt haben, ist noch nichts verloren. Vernichtet kann auch Gefangenschaft bedeuten.«
»Es würde erklären, warum von allen Soldaten, die du schon angesprochen hast, niemand ihn kannte«, sagte ich zu Ooti, die andere Frau ignorierend. Vernichtet heißt vernichtet und nicht Gefangenschaft!, dachte ich ärgerlich.
Kurz bevor die Kälte meine Zähne erreicht hatte, antwortete Ooti endlich.
»Glaub bloß nicht, ich hätte das nicht längst gewusst.«
»Dann komm doch jetzt bitte mit nach Hause!«
Aber Ooti und die Frauen tauschten Blicke. »Ein Weilchen bleib ich noch«, sagte sie.
Es gibt Dinge, die auf dem Weg zum Kopf einfach Zeit brauchen. Gewohnheiten sind wie Nerven, die wichtige Gliedmaßen mit dem Gehirn verbinden; man darf nicht erwarten, dass sie sich von einem Augenblick zum nächsten einfach durchtrennen lassen. Ich sah ein, dass es wenig Sinn hatte, heute noch
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