Unterland
lieblicher sei als Helgoland, aber ähnlich mild im Klima, es gäbe Schafzucht und Obstanbau. Ich lehnte an ihrer Schulter und merkte, wie meine Arme und Beine schlaff wurden, mein Herz leer, wie alle Kraft in meinen Kopf wich, um die Worte denken zu können.
Ich werde meine Mem verlieren. Ich werde meine Mem verlieren.
»Es wird dir gefallen, das weiß ich«, wiederholte sie. »Und Coli n … du magst ihn doch!«
»Ja«, antwortete ich, denn wozu lügen? »Ich komme dich besuchen«, setzte ich hinzu. »Ganz oft. Bestimmt!«
»D u … komms t … mic h … besuchen.« Mem erstarrte. »Aber Alic e … ich kann dich sehen auf dieser Inse l … dich und Henr y … ich sehe euch vor mir!«
»Ich auch, Mem«, flüsterte ich, denn es stimmte, für einen langen Augenblick hörte ich ein Flüstern wie von Gras, durch das der Wind huscht, ich roch den Duft von Muscheln, von Tang und feuchtem Sand, ich schmeckte Salz.
»Ich komme dich besuchen«, wiederholte ich mit fester Stimme. »Aber ich ziehe nicht mit dir nach Guernsey. Wenn Foor nach Hause kommt, muss ich mit Ooti am Bahnhof stehen und auf ihn warten.«
Mem ließ mich los.
»Vielleicht geht Henry ja mit«, sagte ich zögernd.
»Das glaubst du doch selbst nicht«, erwiderte sie müde. »Ohne dich geht Henry nirgendwohin«, und sie umschlang sich mit beiden Armen, als käme die Kälte erst jetzt auch bei ihr an.
In der folgenden Woche gab es mich zweima l – mindestens. Ich spürte es schon auf dem Rückweg in unser Zimmer, als es mich fast zerriss zwischen dem Wunsch, nicht zu gehen, bevor ich meiner Mutter nicht gesagt hatte, es täte mir leid, mir! , und der Empörung, die noch im Flur in mir aufschoss und mich fast dazu gebracht hätte, Ooti, Henry, dem ganzen Haus auf der Stelle alles zu verraten und Mem, die in der Küche zurückgeblieben war, ihrer Schande preiszugeben. Mem, die Einzige, deren Ehemann noch am Leben war! Es fiel nicht schwer, mir auszumalen, wie die anderen Frauen über sie herfallen würden, und ein Teil von mir wünschte sich genau das.
Der andere Teil fühlte sich verantwortlich, weil sie mich ins Vertrauen gezogen hatte. Ich fühlte mich schuldig, als ich neben Ooti unter die Decke schlüpfte, schuldig und falsch, und ich hoffte inständig, dass Mem auch Ooti und Henry alles beichtete, damit ich wieder eine Seite hatte, auf die ich mich stellen konnte.
Doch sie verriet nichts, wollte offenbar abwarten bis zur Rückkehr von Captain Sullavan. Eine ganze Woche lang würde ich so tun müssen, als gäbe es weder Mems Geheimnis noch das von Wim und Nora.
Wie unser Leben nach dieser Woche aussehen würde? Ich wusste nicht, wie ich auch nur anfangen sollte, es mir auszumalen.
Wim stellte keine Fragen über mein Bein. Er schien mir weder übel zu nehmen, dass ich ihm die Wahrheit verschwiegen hatte, noch meine Prothese so bemerkenswert zu finden, dass er sie sehen oder irgendetwas darüber wissen wollte. Seine Reaktion machte mir schon fast Mut zu glauben, dass sie keine Rolle spielte, weil er erst von ihr erfahren hatte, nachdem er bereits wusste, dass man mit mir etwas anfangen konnte!
Leider hatte ich mich gründlich geirrt. Nora zeigte uns einen simplen Tanz, der aus zwei Schritten nach rechts und einem Schritt nach links bestand und den ich nach weniger als zwei Minuten kapiert hatte. Was etwas länger dauerte, war, zu verstehen, weshalb Wim sich dabei so dumm anstellte.
»Hör auf, laut bis drei zu zählen!«, kommandierte Nora. »Schau nicht ständig auf deine Füße! Deine Partnerin zu führen heißt nicht, sie herumzuschieben wie einen Kleiderständer!«
»Wenn ich nicht auf meine Füße schaue, treten sie auf ihre!«, klagte Wim, als machten seine Füße sich selbstständig, sobald Nora das Radio lauter drehte.
»Ja, weil du zu große Schritte machst! Versuche auf der Stelle zu bleiben und zu trippeln .«
»Trippeln«, wiederholte Wim und schaute so anstrengt auf seine Füße, dass ich ihm in den Kragen sehen konnte.
Bis zu diesem Augenblick hatte ich befürchtet, der Versuch zu tanzen könnte nur an den Einschränkungen meines linken Beins scheitern, doch in Wahrheit war es noch deprimierender: Mein Bein machte mit, aber seine Einschränkungen gingen meinem Partner nicht aus dem Kopf! Wim hatte Angst, und man konnte es drehen und wenden, wie man wollte: Die Wurzel des Problems war mein Bein. Mit mir konnte man nicht tanzen.
Nach zwanzig Minuten brach ich den Versuch ab und erklärte, mein Bein habe für heute genug. »Das
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