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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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würde, die Besucher das eigentliche Essen also noch gar nicht mitbrachten.
    Ob man auch nachträglich einen Antrag stellen konnte, gewogen zu werden? Es würde alles andere als ein schönes Gefühl sein, unter Wims halb verhungerten Augen meine Schulspeisung löffeln zu müssen, nur weil er an diesem Morgen verpasst hatte mitzukommen!
    Vorn auf seinem Lehrertisch hatte Graber bereits das obligatorische britische Fähnchen postiert, das er immer dann aus seiner Tasche zog, wenn Tommy-Besuch erwartet wurde. Es hing an einem dünnen Metallstab, der von einer Holzscheibe gehalten wurde, und fiel um, sobald Graber sich setzte oder aufstand. Henrys schlechter Augen wegen saßen mein Bruder, Leni und ich in der ersten Bank gleich vor Grabers Tisch, und wenn das Fähnchen fiel, griff Henry wortlos danach und richtete es wieder auf.
    Die Wiegeaktion begann vor versammelter Klasse mit einer Ansprache von Graber, neben dem sich die Krankenschwestern und der Arzt postiert hatten, ein ermunterndes Lächeln nicht nur auf den Lippen, sondern im Falle der beiden Frauen sogar im ganzen Gesicht.
    »In ihrer großen Güte hat die Militärregierung gemeinsam mit dem gesamten britischen Volk beschlossen, der Not unseres besiegten Volkes durch eine großzügige, mildtätige Gabe zu begegne n …«
    Ich sah, wie die beiden Krankenschwestern ein klein wenig gefroren und Graber von seitlich unten Blicke zuwarfen, um sich zu vergewissern, ob sie etwa gerade hochgenommen werden sollten. Der traurige Arzt betrachtete derweil müde und melancholisch über unsere zweiundsechzig Köpfe hinweg die bröselnde Wand; er musste ein Tommy sein, er verstand kein Wort.
    »Das britische Volk, das an den Auswirkungen des von uns Deutschen verschuldeten Krieges selbst in diesem Augenblick noch erheblich zu leiden hat, stellt eine beträchtliche Summe zur Verfügung, um euch, ihr lieben Kinder, eine tägliche Schulspeisung zu ermöglichen.«
    Einzelne, besonders gewichtige Worte wippte Graber auf den Zehenspitzen, beide Daumen in die Träger seiner Hose gehakt. Aus wirkungen! Ver schul det! Er heb lich! Es war ein so peinliches, verlogenes Schauspiel, dass keiner von uns eine Miene verzogen hätte, selbst wenn er angefangen hätte zu hüpfen.
    »Es ist diese groß herzige Geste nicht dankbar genug anzuerkennen, waren es doch wir , durch deren Schuld und Versagen ganz Europa in einen Feuer ball verwandelt wurde, einen Feuer ball, aus dessen dunkelster Asch e …«
    »Schon gut, Herr Graber, lassen Sie uns einfach anfangen«, sagte der müde Tommy zu unserer Überraschung in fast akzentfreiem Deutsch.
    Graber lächelte säuerlich. »Verzeihen Sie. Ich versuche keine Gelegenheit auszulassen, meinem Auftrag zur Umerziehung unserer Jugend zu entsprechen.«
    Der Tommy sah ihn einige Sekunden schweigend an: den glänzenden roten Schädel, winzige Augen hinter trüben Brillengläsern, von denen eins nur dank eines Klebestreifens überhaupt noch am Gestell gehalten wurde. Grabers Grinsen wurde fratzenstarr; ihm musste klar sein, dass die Musterung nicht zu seinen Gunsten ausfallen konnte.
    Tonlos sagte der Tommy: »Wir haben heute sechs Schulen zu wiegen.«
    »Verzeihen Sie«, wiederholte Graber, trat endlich beiseite und überließ uns den Krankenschwestern.
    Die beiden blitzten so weiß, als wären sie aus einer Waschmittelpackung geschüttelt worden; verglichen mit den zusammengewürfelten Lumpen, die im Klassenraum zu besichtigen waren, wirkten sie fast lächerlich. Überall eingefärbte Wehrmachtsuniformen, ganz oder in Teilen, Jacken aus Fallschirmseide, Vorhängen und Wolldecken, Ringelpullover aus aufgeriffelten anderen Pullovern. Auf Lenis Rücken stand Hotel Hanseaten , in ihrer Jacke war ein ehemaliger Sonnenschirm verarbeitet. Ein Junge trug schief gelaufene Damenpumps, an denen die Absätze fehlten.
    Die beiden Krankenschwestern rochen sogar frisch! »Alle mal herhören!«, kommandierte die Ältere, indem sie einen Schritt vortra t – als ob wir nicht bereits still und aufmerksam vor ihr gesessen hätten. »Wir werden gleich ruhig und ordentlich den Raum verlassen, in Fünfergruppen nach Aufruf wieder eintreten, uns bis auf die Unterwäsche entkleiden und nacheinander auf die Waage steigen. Ich weiß, dass es hier drinnen kalt ist, also bitte spart euch das Geheul und die Beschwerden, zieht euch einfach zügig aus und steigt auf die Waage, klar? Ihr wollt nicht schuld sein, wenn eure Kameraden sich beim Warten auf euch eine Lungenentzündung

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