Unterland
holen.«
Die Jüngere hatte eine freundlichere Stimme. So leise, dass man sie kaum verstand, bat sie um das Klassenbuch und einen zuverlässigen Freiwilligen mit ordentlicher Handschrift . Graber reichte ihr die abgewetzte braune Kladde und winkte: »Heinrich!«, worauf Henry unverzüglich aufstand. Die Krankenschwester drückte ihm einen Bogen Papier und einen Stift in die Hand und wies ihn an, die Namen aus dem Klassenbuch in eine Liste zu übertragen, aber bitte sparsam und zweispaltig.
Wie Henry sich neben mir wieder setzte und anfing zu schreiben, bekam ich allerdings kaum noch mit, da ich zu diesem Zeitpunkt bereits intensiv damit beschäftigt war, möglichst unauffällig durch den offenen Mund zu atmen.
»Die ersten fünf Jungen im Klassenbuch bleiben gleich hier!«, kommandierte die ältere Krankenschwester und rief Namen in den Raum, die hinter meiner Stirn wie auf Watte aufschlugen. »Alle anderen jetzt geordnet in den Flur!«
Wie hatte ich nur so unendlich blöd sein können? Seit Graber uns vor zwei Tagen angekündigt hatte, dass eine Wiegeaktion stattfinden und die Klasse von den Tommys eine tägliche Suppe erhalten würde, hatte ich nur dies gehört: eine tägliche Suppe! All meine Gedanken waren um diese drei Worte gekreist, die unerwartete Verheißung einer regelmäßigen Mahlzeit, um deren Erhalt wir offenbar weder bangen noch für die wir das Geringste würden tun müssen. Mehr noch: Bekamen wir mittags eine Suppe, würden wir von unseren Abendrationen vielleicht sogar satt werden, da sich ja noch Reste der Suppe in unserem Magen befinden mussten. Möglicherweise würde der Magen dank der Suppe also gar nicht mehr komplett leer werden, demnach nicht mehr dauernd zu spüren sein. Ein ganz anderes Leben wartete auf uns! Es musste Möglichkeiten geben, den Aufenthalt einer Suppe im Magen zu verlängern, Wissenschaftler beschäftigten sich bestimmt längst damit.
Die Wiegeaktion, die diesen paradiesischen Aussichten voranging, hatte ich nicht bedacht. Sie war vor lauter Suppe gar nicht bei mir angekommen. Die Wiegeaktion war eine Brücke zur Suppe, aber dass auch auf Brücken Gefahren lauerten, hatte ich glatt übersehen. Insofern konnte man fast schon wieder sagen, dass ich Glück gehabt hatte: Ich würde die andere Seite des Flusses zwar nicht erreichen, aber wenigstens blieb mir erspart, ins Loch in der Mitte der Brücke zu fallen.
Vor meiner Nase legte der Arzt ein Stethoskop und ein paar kleinere Instrumente auf Grabers Tisch, dazu ein Paar Handschuhe und seinen Mundschutz. Henry saß vornübergebeugt und schrieb; er merkte überhaupt nicht, wie ich aufstand und meine Krücken in den Gang schob.
»Mir ist schlecht. Kann ich mal kurz an die frische Luft?«
Henrys Kopf ging ruckartig in die Höhe. »Im Flur ist genug frische Luft«, erwiderte Graber ungeduldig.
Damit hatte er Recht. Die ganze linke Seite des Gebäudes war weggebrochen; wer wegen Ungehorsams in den Flur geschickt wurde, stand je nach Witterung im Regen. Doch noch bevor ich dazu kam, mir zu überlegen, wie ich vor allen anderen ins Freie kam, um mich unbemerkt aus dem Staub machen zu können, befreite mich Graber davon, überhaupt etwas unternehmen zu müssen. Anstelle des üblichen »Abtreten!«, das wir als geordnetes Hintereinandermarschieren verstanden, komplimentierte er uns mit den Worten aus dem Raum: »Bitte alle außer den eben Aufgerufenen auf den Flur!« Worauf eine wilde, johlende Horde gleichzeitig die Klassentür stürmte.
»Nein, du natürlich nicht, Heinrich!«
Henry, der Anstalten machte aufzustehen, wurde an der Schulter gepackt und wieder auf die Bank gedrückt. Ich mied seinen Blick, während ich mich von der Schar der anderen nach draußen mitziehen ließ; dass ich heute nicht wieder auftauchen würde, konnte er sich ohnehin denken. Als ich durch die Tür gespült wurde, hatte Leni sich bereits in eine ruhige Flurecke gerettet, von wo sie mir eifrig winkte.
Sekundenlang fürchtete ich, dass sie mich verraten würde, indem sie mir etwas hinterherrief, aber sie tat es nicht. Ich war mir sicher, dass ich, wenn ich mich umdrehte, ihr ratloses, vorwurfsvolles Gesicht sehen würde, doch ich drehte mich nicht um und niemand rief oder ging mir nach, als ich an meinen Klassenkameraden vorbei zur Treppe krückte, mich mit zusammengebissenen Zähnen sechs Stufen hinunterarbeitete und endlich auf der Straße stand.
5
Zu den schätzenswerten Eigenschaften Wim Wollanks gehörte, dass er kein Blatt vor den Mund
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