Unterm Rad
Prachtvolleres zu machen als jener aus der jugendfrischen homerischen Sprache. Aber es war schließlich doch Homer, bei dem gleich hinter den ersten Schwierigkeiten auch schon
Überraschungen und Genüsse hervorspringen und unwiderstehlich weiter verlocken. Oft saß Hans vor einem geheimnisvoll schön klingenden, schwer verständlichen Vers voll zitternder Ungeduld und Spannung und konnte nicht eilig genug im Wörterbuch die Schlüssel finden, die ihm den stillen, heiteren Garten eröffneten.
Hausarbeit hatte er nun wieder genug, und manchen Abend saß er wieder, in irgendeine Aufgabe festgebissen, bis spät am Tisch. Vater Giebenrath sah diesen Fleiß mit Stolz. In seinem schwerfälligen Kopf lebte dunkel das Ideal so vieler beschränkter Leute, aus seinem Stamme einen Zweig über sich hinaus in eine Höhe wachsen zu sehen, die er mit dumpfem Respekt
verehrte.
In der letzten Ferienwoche zeigten sich Rektor und Stadtpfarrer plötzlich wieder auffallend milde und besorgt. Sie schickten den Knaben spazieren, stellten ihre Lektionen ein und
betonten, wie wichtig es sei, daß er frisch und erquickt die neue Laufbahn betrete.
Ein paarmal kam Hans noch zum Angeln. Er hatte viel Kopfweh und saß ohne rechte
Aufmerksamkeit am Ufer des Flusses, der nun einen lichtblauen Frühherbsthimmel spiegelte. Es war ihm rätselhaft, weshalb er sich eigentlich seinerzeit so auf die Sommervakanz gefreut hatte.
Jetzt war er eher froh, daß sie vorüber war und er ins Seminar kam, wo ein ganz anderes Leben und Lernen beginnen würde. Da ihm nichts daran lag, fing er auch fast gar keine Fische mehr, und als der Vater einmal einen Witz darüber machte, angelte er nicht mehr und tat seine Schnüre wieder in den Mansardenkasten hinauf. Erst in den letzten Tagen fiel ihm plötzlich ein, daß er wochenlang nicht mehr beim Schuhmacher Flaig gewesen war. Auch jetzt mußte er sich dazu zwingen, ihn aufzusuchen. Es war Abend, und der Meister saß am Fenster seiner Wohnstube, ein kleines Kind auf jedem Knie. Trotz des offenstehenden Fensters durchdrang der Geruch von Leder und Wichse die ganze Wohnung. Befangen legte Hans seine Hand in die harte, breite Rechte des Meisters.
»Nun, wie geht's denn?« fragte dieser. »Bist fleißig beim Stadtpfarrer gewesen?«
»Ja, ich war jeden Tag dort und hab' viel gelernt.« »Was denn?«
»Hauptsächlich Griechisch, aber auch allerlei sonst.« »Und zu mir hast nimmer kommen mögen?«
»Mögen schon, Herr Flaig, aber 's hat nie dazu kommen wollen. Beim Stadtpfarrer jeden Tag eine Stunde, beim Rektor jeden Tag zwei Stunden, und viermal in der Woche mußte ich zum
Rechenlehrer.«
»Jetzt in den Ferien? Das ist ein Unsinn!« »Ich weiß nicht. Die Lehrer meinten so. Und das Lernen fällt mir ja nicht schwer.«
»Mag sein«, sagte Flaig und ergriff des Knaben Arm. »Mit dem Lernen war's schon recht, aber was hast du da für ein paar Ärmlein? Und auch 's Gesicht ist so mager. Hast auch noch Kopfweh?«
»Hie und da.«
»'s ist ein Unsinn, Hans, und eine Sünde dazu. In deinem Alter muß man ordentlich Luft und Bewegung und sein richtiges Ausruhen haben. Zu was gibt man euch denn Ferien? Doch
nicht zum Stubenhocken und Weiterlernen. Du bist ja lauter Haut und Knochen!« Hans lachte.
»Na ja, du wirst dich schon durchbeißen. Aber was zuviel ist, ist zuviel. Und mit den Lektionen beim Stadtpfarrer, wie ist's da gegangen? Was hat er gesagt?«
»Gesagt hat er vielerlei, aber gar nichts Schlimmes. Er weiß kolossal viel.«
»Hat er nie despektierlich von der Bibel geredet?« »Nein, kein einziges Mal.«
»Das ist gut. Denn das sage ich dir: lieber zehnmal am Leibe verderben als Schaden nehmen an seiner Seele! Du willst später Pfarrer werden, das ist ein köstliches und schweres Amt, und es braucht andere Leute dazu, als die meisten von euch jungen Menschen sind. Vielleicht bist du der Rechte und wirst einmal ein Helfer und Lehrer der Seelen sein. Das wünsche ich von Herzen und will darum beten.«
Er hatte sich erhoben und legte nun dem Knaben beide Hände fest auf die Schultern.
»Leb wohl, Hans, und bleibe im Guten! Der Herr segne dich und behüte dich, Amen.«
Die Feierlichkeit, das Beten und Hochdeutschreden war dem Knaben beklemmend und peinlich.
Der Stadtpfarrer hatte beim Abschied nichts derart gemacht.
Mit Vorbereitungen und Abschiednehmen vergingen die paar Tage schnell und unruhig. Eine Kiste mit Bettzeug, Kleidern, Wäsche und Büchern war schon abgeschickt, nun wurde noch
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