Unterm Strich
meiner Amtszeit fest: Insgesamt geht es der Rentnergeneration von heute so gut wie keiner Seniorenschaft zuvor. Und aller Wahrscheinlichkeit nach auch so gut wie keiner mehr nach ihr. Altersarmut wird zweifellos ein Zukunftsproblem, das allein über das derzeitige System der gesetzlichen (umlagefinanzierten) Rentenversicherung nicht zu bewältigen sein wird. Ein Durchschnittsverdiener, der nicht länger als 30 Jahre gezahlt hat, wird als Rentner nicht viel mehr als 650 Euro im Monat beziehen. Für die Solo-Selbständigen, die an die ewige Jugend glauben oder schlicht nicht Vorsorgen können, selbst wenn sie es wollten, stellt sich das Problem noch viel schärfer dar. Hier sollte die Politik eine klare Ansage treffen und niemandem Sand in die Augen streuen, dass sich die Aussichten durch noch höhere Bundeszuschüsse zur Rentenkasse oder eine deutliche Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge grandios aufhellen ließen.
Dagegen ist die Lage insbesondere von Alleinerziehenden und Einwanderern bereits heute brisant. Laut Familienreport 2009 des Bundesfamilienministeriums ziehen 1,6 Millionen Menschen in Deutschland ihre Kinder ohne Partner auf. Jede fünfte Familie sammelt sich um eine alleinerziehende Person - zu 87 Prozent Frauen, zu 40 Prozent Hartz-IV-Empfänger, zu 70 Prozent Mittdreißiger. Die meisten von ihnen sind teilzeitbeschäftigt, also in schlechtbezahlten Jobs tätig, was nicht an mangelnder Qualifikation liegt, sondern daran, dass Teilzeitarbeit durchweg schlechter bezahlt wird als Vollzeitarbeit.
Unzweifelhaft sammelt sich hier sozialer Sprengstoff. Aber wiederum entzieht sich das Problem einer einfachen, dann auch Empörung weckenden Betrachtung - geschweige denn Lösung. Armut ist, schreibt Susanne Gaschke, »wie so vieles in dieser unübersichtlichen Gesellschaft ein ermüdend komplexes Phänomen ... das sich zusammensetzt aus politischen Entscheidungen, Fehlentwicklungen des Wirtschaftssystems und persönlichen Handicaps«. Die meisten Sozialökonomen und Praktiker des Sozialsystems gewinnen dem Reflex, höhere Transferleistungen zu organisieren, also mehr »Staatsknete rüberwachsen zu lassen«, wenig oder nichts ab. Ein Teil ihrer Skepsis richtet sich auf falsche Anreizwirkungen, ein anderer Teil auf Sickereffekte. »Was an der rein materiellen Armutsdiskussion so erschöpft, ist das Gefühl der Unendlichkeit.« Selbst wenn man frei von Haushaltsrestriktionen die Transferleistungen weiter steigern könnte, gibt es begründete Zweifel, dass allein darüber das Problem nach dem Motto »Viel hilft viel« verschwindet oder kleiner wird. Schließlich liegt eine Reihe von Ursachen auch in der persönlichen Lebensgestaltung der Betroffenen - Trennungen von Partnern, Verschuldung, mangelnde Qualifizierungsbereitschaft -, die eher sozialpsychologische Hilfe denn Geld verlangt.
Kein anderer Faktor aber ist für die Bekämpfung von Armut von so zentraler Bedeutung wie Bildung. Den Kindern aus benachteiligten einheimischen Familien wie aus Familien mit Migrationshintergrund werden gleichwertige Bildungschancen nicht über eine »Herdprämie«, den Irrwitz eines individuellen Betreuungsgeldes, eröffnet, sondern nur und gerade über entsprechende Betreuungseinrichtungen einschließlich ihres geschulten Personals. Hierein muss das staatliche Geld fließen. Die Unternehmensberatung Boston Consulting Group hat einmal ausgerechnet, dass jährlich mindestens 5 Milliarden Euro investiert werden müssten, um Kindern mit Migrationshintergrund gleichwertige Bildungschancen zu eröffnen. Für alle, die fixiert nach der »Rendite« solcher öffentlichen Investitionen fragen: Die Boston Consulting Group errechnete, dass ein solches Programm über die nächsten 20 Jahre dem Steuerzahler einen sechsmal höheren Gewinn durch zusätzliche Einnahmen wie auch durch entfallene »Beruhigungs- und Reparaturkosten« einbringen würde.
Dies führt zu einem Generalnenner: Bildung und Ausbildung sind der Schlüssel zur Entschärfung einer wachsenden gesellschaftlichen Kluft und dem darin liegenden Sprengstoff - weshalb davon noch häufiger zu reden sein wird.
In eine Drift ist nicht nur der untere Teil der Gesellschaft geraten. Die Studien des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld unter der Leitung von Professor Wilhelm Heitmeyer, die seit 2002 empirisch die Tendenzen der sozialen Desintegration in Deutschland untersuchen, weisen aus, dass Abstiegsängste und
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