Unterm Strich
Orientierungslosigkeit sich längst auch auf die sogenannte Mittelschicht - eine politisch und kulturell nicht minder aufgeladene, aber deshalb nicht unbrauchbare Kategorie - ausgebreitet haben. Diese Mittelschicht hat die Nachkriegsjahrzehnte maßgeblich geprägt. Sie trägt zur Arbeitsethik bei und definiert nach wie vor im Wesentlichen, was in unserer Gesellschaft als »normal« gilt. Diese »Normalitäten« können sich allerdings verändern, wie Wilhelm Heitmeyer und seine Forschungsgruppe belegen. In weiten Teilen der Bevölkerung sei der Eindruck entstanden, dass die Globalisierung zu Kontrollverlusten nationalstaatlicher Politik mit der Folge einer größeren sozialen Unsicherheit führe, dass sich ökonomische Entwicklungen jeglichem Einfluss entzögen und der einzelne Bürger kaum noch zu seiner eigenen sozialen Sicherung und zur Entwicklung der Gesellschaft beitragen könne. Gesellschaftliche Prozesse würden zunehmend »ungerichtet« ablaufen, was viele orientierungslos werden lasse. Diese negativen Wahrnehmungen führten zu Verstörungen, in denen die Keime für eine Verschiebung von Grenzlinien und Normalitäten lägen: Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie, Sexismus und Gewaltbereitschaft nähmen zu.
Diese Mittelschicht, gemessen an der Einkommensverteilung (Bezieher von Einkommen, die über 70 Prozent bis unter 150 Prozent des mittleren Einkommens verfügen), ist in den letzten 20 Jahren geschrumpft - um etwa ein Viertel auf rund 46 Prozent der Bevölkerung unter Einbeziehung von Deutschen mit Migrationshintergrund oder, wenn diese nicht berücksichtigt werden, auf etwa 57 Prozent. Die McKinsey-Studie Deutschland 2020 aus dem Jahr 2008 kommt zu dem Ergebnis, dass der Mittelschicht bis 2020 bei einem angenommenen jährlichen Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 1,7 Prozent (sie) 10 Millionen Menschen weniger zuzurechnen sein werden, als es noch Anfang der neunziger Jahre waren. Für die Befindlichkeit dieser mittleren Schicht spielt aber offenbar nicht nur die materielle Lage eine Rolle, die sich vor allem im Zuge des Lohndrucks der vergangenen Jahre bei gleichzeitig steigenden »Nebenkosten« der Lebenshaltung verschlechtert hat. Bedenklicher erscheint der Befund, dass die früher in Reichweite gesehene Aufstiegsaussicht offenbar einer Abstiegsangst gewichen ist. Der bisher unbekannte Begriff der »Abwärtsmobilität« hat sich inzwischen weit über die Fachkreise von Sozialwissenschaftlern hinaus ausgebreitet. Unübersichtlichkeiten, Beschleunigung und eine Entwicklung, die als Werteverfall empfunden wird, spiegeln sich in Verunsicherung. Je wissensintensiver Wirtschaft und Gesellschaft durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt werden, desto mehr wächst das Gefühl der Überforderung. Wer einmal abgestiegen ist, verharrt dort eher, als dass er schnell wieder aufsteigt. Die These, es gebe auch heute noch mehr Aufsteiger als Absteiger und es mangle nicht an Durchlässigkeit in unserer Gesellschaft, mutet deshalb wie eine Verklärung an und erscheint mir mehr als gewagt.
Wenn die Mittelschicht materiell den Boden unter den Füßen verliert und ihre mentale Verfassung eher anfällig ist als ambitioniert, dann stellt sich die Frage, was dies für das Sozialgefüge und auch die wirtschaftliche Leistungskraft des Landes heißt. »Die alte Bundesrepublik war eine Mittelschicht-Republik. Die untere Mittelschicht strebt in die Mitte, die mittlere in die obere Schicht, die obere in die oberste. Und das alles tat der Gesellschaft gut, der Erfolg der Republik war der Erfolg der Mittelschicht.« Die Mittelschicht ist von staatstragender Bedeutung in dem Sinne, dass sie maßgeblich den Normenhaushalt der Gesellschaft prägt (»Das tut man nicht!«), den Maschinenraum mit einem Aufstiegsversprechen am Laufen hält und den Staat mit ihrem Sinn für (Selbst-) Verantwortung vor Überforderungen bewahren kann. Ist dieser Mittelstand stabil - wie in der deutschen Nachkriegsgeschichte -, ist er die beste Versicherung gegen extreme Versuchungen mit ihrer Anlage zu Totalschäden. Ist sie derangiert und orientierungslos - wie in der Agonie der Weimarer Republik -, kann sie zum Treibhaus exakt solcher extremen Ressentiments werden. Der soziale Schwerpunkt löst sich auf, die Ränder erhalten Zulauf.
Ein Riss durch unsere Gesellschaft droht nicht allein aufgrund einer fortdauernden Deklassierung und Ausgrenzung am unteren Ende der sozialen Skala und zusätzlich wegen der Auszehrung und
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