Unterm Strich
zu einer deutlichen Zunahme unsicherer Beschäftigung und einer Spaltung des Arbeitsmarktes. Womit wir eine weitere Zielantinomie konstatieren müssen. Denn zweifellos gab es bis zu den Arbeitsmarktreformen 2004/2005 im europäischen Vergleich kaum einen so befestigten Arbeitsmarkt und eine so beharrliche Sockelarbeitslosigkeit wie in Deutschland. Sie erzeugten angesichts 5 Millionen Arbeitsloser einen politischen Handlungsdruck, dem die Bundesregierung von Gerhard Schröder mit umstrittenen, aber in der Summe erfolgreichen Maßnahmen entsprach. Andererseits ist darüber das gesellschaftliche Klima rauer geworden, und der Trend einer gesellschaftlichen Desintegration hat sich verschärft.
Jeder Vierte ohne vollen Job gilt als armutsgefährdet. Rund 50 Prozent dieser Arbeitnehmer erhalten einen Bruttostundenlohn, der unterhalb der Niedriglohngrenze von 9,85 Euro liegt. In kaum einem anderen Land Europas wächst der Niedriglohnsektor so stark wie in Deutschland. Der Hinweis, dass die Art der Beschäftigung nicht der einzige Bezugspunkt für eine (niedrige) Entlohnung sein müsse, sondern dass auch die Qualifikation einen großen Einfluss habe, trifft nicht mehr uneingeschränkt zu. Denn inzwischen sind immer mehr Menschen selbst mit guter Ausbildung Geringverdienende. Zu den materiellen Nöten gesellt sich eine psychosoziale »Verarmung«, die im individuellen Sozialverhalten in »Kontrollverlusten« zum Ausdruck kommen kann. Spektakuläre Einzelfalle - von Verwahrlosungen bis hin zu Gewalttaten - erschrecken dann die Republik, aber eher so, als schaute sie einem Film zu, der in weiter Ferne spielt. Diese Art der Verarmung erlangt dann eine kollektive Bedeutung, wenn die von Teilhabe ausgegrenzten Verlierer sich zusätzlich selbst abkapseln und für Spielregeln und Toleranz im öffentlichen Raum unerreichbar werden. Der Bielefelder Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer sieht hier eine Rutschbahn, die dazu führen kann, dass sich minderheiten- und fremdenfeindliche Einstellungen vermehren und verdichten.
Der offizielle Armutsbegriff (ein Nettoeinkommen, das unterhalb von 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt) ist selbst ziemlich arm - nämlich ohne Aussagekraft, wenn nicht irreführend. Danach könnten ohne Ausnahme alle Deutschen das Doppelte verdienen, und doch wären alle armen Menschen weiterhin arm, wie Helmut Schmidt einmal in einem Brief vom Oktober 2008 zutreffend kritisierte. Er fügte hinzu, dass nach dieser Armutsdefinition die Zahl der Menschen, die zu den Armen gezählt werden müssten, steigen würde, ohne dass sie einen einzigen Cent weniger hätten als zuvor, wenn sich plötzlich eine Vielzahl von Einkommensmillionären in Deutschland niederließe. Hartz IV hat im Jahr 2005 die Kinderarmut auf 2,2 Millionen verdoppelt, was lautstarke Klagen provozierte. Tatsächlich handelte es sich um einen vornehmlich statistischen Effekt, weil die Kinder aus der Sozialhilfe mit den Kindern aus der Arbeitslosenhilfe zusammengefasst wurden. Hinzu kamen Kinder, deren Eltern bis dahin keine Unterstützungsanträge gestellt hatten. So viel zur Fragwürdigkeit und Skandalisierung von Statistiken und Normen in Regierungsberichten.
Dieser Hinweis sollte nicht mit einer Geringschätzung der Tatsache verwechselt werden, dass es in Deutschland viele Fälle echter Armut gibt. Dieses faktische, nichtstatistische Armutsrisiko konzentriert sich auf alleinerziehende Frauen, Migranten, Geringqualifizierte und Kinderreiche - und die überlappen sich. Zu drei Vierteln sei die steigende Anzahl einkommensschwacher Haushalte auf Einwanderung und mangelnde Integration zurückzuführen, sagt der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel, wobei offenbleibt, ob sich die mangelnde Integration nicht auch auf Einheimische erstreckt. Geographisch ragen die »demographischen Krisengebiete« der neuen Länder mit Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt heraus, wo mehr als 15 Prozent der Bevölkerung Leistungen der Mindestsicherung empfangen.
Entgegen landläufiger Meinung und lautstarker Artikulation von Sozialverbänden ist die Altersarmut derzeit kein vordringliches Problem in Deutschland - im Gegensatz zur Kinderarmut! Etwa 2 Prozent der 20 Millionen Rentner sind auf die Grundsicherung im Alter - jenseits aller Schnörkel ist das eine steuerfreie Sozialhilfe - angewiesen. Sie liegt derzeit durchschnittlich bei 670 Euro im Monat, was gewiss spartanisch ist und kein würdiges Leben im Alter zulässt. Aber ich halte an den Bewertungen aus
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