Unterm Strich
durchzusetzen, weil die ungebrochene Sehnsucht nach Eindeutigkeit eher eine Politik des Entweder-oder fordern und belohnen wird, obwohl diese sich als zu simpel und damit falsch erweisen wird.
Die Erosion des normalen Arbeitsverhältnisses - gemeinhin der Vollzeitjobs - ist der kräftigste Spaltpilz in unserer Gesellschaft. Der wirtschaftliche Aufschwung 2006 bis 2008 hat die Arbeitslosigkeit von 5 Millionen (2005) auf 3,3 Millionen (2008) gesenkt. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten nahm im gleichen Zeitraum jeweils um 640 000 zu. Die Vermittlungsbemühungen der neuorganisierten Arbeitsverwaltung waren mit Blick auf die Bezieher von Arbeitslosengeld I (ALG I) erfolgreich. Diese erfreuliche Entwicklung kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass gleichzeitig prekäre oder atypische Arbeitsverhältnisse, zu denen Minijobs, Zeitarbeit, befristete Arbeitsverträge und Teilzeitjobs mit maximal 20 Stunden pro Woche gezählt werden, rasant zugenommen haben. Die Arbeitsmarktreformen unter der umstrittenen Chiffre »Hartz« haben dem Vorschub geleistet. Das Argument »Hauptsache neue Stellen, und jeder Arbeitsplatz ist besser als Arbeitslosigkeit« lässt sich zwar gegen eine Fundamentalkritik an der Zunahme dieser atypischen Beschäftigung ins Feld führen, doch mit negativen Begleiterscheinungen, die eine unübersehbare und steigende Unzufriedenheit füttern. Während 1998 mit 73 Prozent der weitaus größte Teil aller Erwerbstätigen in einem »Normalarbeitsverhältnis« beschäftigt war, sank dieser Anteil bis 2008 auf 66 Prozent. Dieses »Normalarbeitsverhältnis«, das eine existenziell auskömmliche Entlohnung, eine soziale Absicherung, einen unbefristeten Vertrag mit einem Arbeitgeber und die direkte Beschäftigung in dessen Unternehmen sowie soziale Schutzrechte für Arbeitnehmer verspricht - und dies durchweg einlösen kann -, ist auf dem Rückzug. Dementsprechend ist die Anzahl der atypischen Beschäftigten in diesen zehn Jahren von 5,5 auf 7,7 Millionen (ohne Solo-Selbständige) angewachsen. Die Geschwindigkeit, in der unsichere Beschäftigungsverhältnisse zunehmen, und das bedenkliche Ausmaß, in dem vor allem unter 25-Jährige davon betroffen sind (rund 40 Prozent), bringen die Vorstellungskraft auf Trab, sich die daraus resultierenden gesellschaftlichen Folgen auszumalen.
Leiharbeit oder Zeitarbeit verdrängt zunehmend Normalbeschäftigung. Die Hälfte aller neuen Stellen zwischen 2006 und 2008 wurde hier geschaffen. Unternehmen gründen inzwischen eigene Leiharbeitsfirmen und überführen dorthin einen Teil ihrer Beschäftigten. Diese machen entweder denselben Job wie zuvor - aber unter schlechteren Bedingungen - oder werden »weiterverliehen«. Ziel und Ergebnis sind eine geringere Entlohnung, Abstriche bei der sozialen Absicherung, zum Beispiel der Wegfall von Kündigungsfristen, und eine Zweiklassenbildung unter den Beschäftigten. Die einen unterliegen einem Tarifvertrag und dem Rechtsschutz des Betriebsverfassungsgesetzes - die anderen nicht. Die ursprünglich richtige Absicht, Leiharbeit als Instrument zum Abgleich von Auftragsspitzen einzusetzen und dafür einen rechtlichen Rahmen zu schaffen, hat die Praxis inzwischen weitgehend konterkariert. Die »Generation Praktikum« sieht sich zu über 50 Prozent unterbezahlt und zu einem hohen Anteil als normale Arbeitskraft ausgenutzt. »Minijobs«, die inzwischen auf über 7 Millionen gestiegen sind, ersetzen zunehmend reguläre Vollzeitarbeitsplätze. 20 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland nehmen eine solch geringfügige Beschäftigung wahr. 90 Prozent der »Minijobs« sind mit Niedriglöhnen dotiert. Zwei Drittel aller geringfügig Beschäftigten sind Frauen. Ein Drittel der »Minijobber« ist über 50 Jahre alt. Die befristeten Arbeitsverhältnisse haben sich zwischen 1999 und 2009 auf 5 Millionen verdoppelt. Von allen befristet Beschäftigten waren 2009 rund 60 Prozent unter 30 Jahre. Schließlich gibt es noch die über 2 Millionen Solo-Selbständigen, die sich selbst ausbeuten, von Auftrag zu Auftrag leben und mit ihrem Laptop in Kneipen und Cafes mit WLAN-Anschluss zu finden sind.
Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, die eine in Deutschland fast zementierte Sockelarbeit aufbrechen und Arbeitslosen gegebenenfalls auch über den Umweg einer atypischen Beschäftigung den Wiedereinstieg in ein Normalarbeitsverhältnis auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt eröffnen sollte, führte gleichzeitig
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