Unterm Strich
Inflationsrate haben viele (westdeutsche) Arbeitnehmer heute nicht mehr in der Tasche als in den achtziger Jahren. Darüber sind zwar die Lohnstückkosten in Deutschland ebenfalls gesunken, was unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit verbessert und manchen Arbeitsplatz gewiss sicherer gemacht hat, aber Löhne und Gehälter sind eben nicht nur ein Kostenfaktor, sondern auch ein Einkommensfaktor, der die chronisch schwache Binnennachfrage in Deutschland jedenfalls nicht gestärkt hat.
Die schmalen Geldbörsen oder spärlichen Kontostände von Vollzeitbeschäftigten, an denen in den unteren Einkommenskategorien die Steuer- und Abgabenentwicklung der letzten Jahre - entgegen manchem abgeleierten Schlager - keinen Anteil hatte, und die Zunahme unsicherer Beschäftigung haben ein Ausmaß angenommen, das zu ignorieren teuer zu stehen kommen könnte. Diese Erfahrungen werden durch Nachrichten aus der belle etage der Gesellschaft komplettiert, die die wachsende Kluft in der Einkommens- und Vermögensverteilung belegen und ein »kollektives Missvergnügen« befördern. In den 20 Jahren seit Einführung des Deutschen Aktienindex Dax (1988) sind einer Auswertung der Unternehmensberatung Kienbaum zufolge die Gesamtbezüge der Dax-Vorstände um 650 Prozent gestiegen, die von Geschäftsführern nichtbörsennotierter Unternehmen um rund 100 Prozent und die von leitenden Angestellten um 80 Prozent. Verdiente ein Topmanager im Jahr 1976 durchschnittlich das 15- bis 20-Fache eines Angestellten, so kletterte dieses Verhältnis im Lauf der folgenden drei Jahrzehnte auf das 43-Fache, mit steigender Tendenz. Ausschläge bis hin zum 100-Fachen sind keine Ausnahme. Im Jahr 2007 betrug das Nettovermögen der privaten Haushalte in Deutschland - also nach Abzug ihrer Verbindlichkeiten - etwa 6,6 Billionen Euro. Das reichste Zehntel der Bevölkerung besaß davon mehr als 60 Prozent. Nach einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung hielten 2007 nur noch 15 Prozent der Bürger die wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland im Großen und Ganzen für gerecht, dagegen weit mehr als 50 Prozent für ungerecht. Die Umfrage zeigte auch eine starke Präferenz für Wohlfahrtsstaaten nach skandinavischem Muster.
Der Versuch, diese Entwicklung unter Hinweis auf die Bedeutung einer - wie auch immer zu definierenden - Leistungselite zu rechtfertigen, deren Beitrag zum gesellschaftlichen Wohlstand eine hohe Vergütung verdiene, führt am Problem vorbei. Vielmehr steht die Frage im Vordergrund, ob die Summe individueller Fehltritte dieser Elite - in Form von Steuerhinterziehung, Korruption und maßlosen Abfindungen einschließlich der Renditejagd von Finanzinstituten im Eigenhandel oder im Auftrag von Anlegern - nicht eines Tages von einer Mehrheit der Bevölkerung als Systemmakel begriffen wird und ihre Verdrossenheit darüber zu einem Strom des Missvergnügens anschwellen lassen könnte, der in ein Meer des sozialen Unfriedens mündet. Anders gewendet: Zerstören die oberen Etagen der Gesellschaft möglicherweise durch Ignoranz die Fundamente, auf denen das Gebäude ruht? Das wäre in der Geschichte kein unbekannter Vorgang.
Den Widerspruch zwischen einer ausgeglicheneren Einkommens- und Vermögensverteilung einerseits und einem gerechten, leistungsfördernden, wettbewerbsfähigen und möglichst einfachen Steuersystem andererseits kann Politik nicht ohne neue Verletzungen und Ungleichheiten an anderer Stelle auflösen. »Keine politische Rezeptur schafft es mehr, das immer dramatischere Auseinanderklaffen der Einkommens- und Vermögensverhältnisse zu verhindern«, schreibt Andreas Zielcke (ich füge hinzu: ohne kollaterale Beschädigung anderer Ziele in Kauf zu nehmen). Er schlussfolgert: »Jede Politik, die sich der wirtschaftlichen und sozialen Krise widmet, kann auf absehbare Zeit nur noch eine Gestaltung von Asymmetrien sein ... Diese Asymmetrien werfen nicht nur die allfälligen Gerechtigkeitsfragen auf, sondern verwandeln die westlichen Gesellschaften in immer fragilere Konglomerate, auf deren zersplitternde Bestandteile längst keine politische Ideologie aus einem Guss mehr passt.«
Die Politik wird zum Spagat gezwungen, weil die Wirklichkeit zu viele Varianten parat hält und zu komplex geworden ist und weil es die eine politische Wahrheit und Lösung nicht mehr gibt - wenn es sie denn je gegeben haben sollte. Das Sowohl-als-auch wird die politische Kunst des 21. Jahrhunderts. Es wird wie jede moderne Kunstrichtung seine liebe Mühe haben, sich
Weitere Kostenlose Bücher