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Unterm Strich

Unterm Strich

Titel: Unterm Strich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peer Steinbrück
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gesetzt werden, die dieses gesellschaftliche System im Grunde legitimieren. Hier liegt der entscheidende Denkfehler oder, mehr noch, die ideologische Sperre jener selbsternannten Retter der Mittelschicht und Kreuzzügler gegen den in seiner Sozialleistung angeblich überbordenden Staat. Sie definieren Freiheit im Wesentlichen als Freiheit von Steuerzahlungen und haben in ihrer Marktversessenheit vergessen, dass der Staat der größte und wichtigste Garant von Freiheit ist, indem er vor allem diese Gesellschaft stabil hält. Sie haben in ihrer Fokussierung auf eine spezifische Wählerklientel den ganzheitlichen Blick auf die Gesellschaft verloren. Sie schaufeln letztlich Gräben, statt die Mittelschicht durch eine größere gesellschaftliche Durchlässigkeit zu stärken.
    Wer angesichts der handfesten Fehlentwicklungen und akuten Herausforderungen, die uns noch weitaus mehr beschäftigen werden, als wir heute ahnen, eine fortgesetzte undifferenzierte Zuwanderung als Lösung der Demographiefalle auch nur in Erwägung zieht, muss des Wahnsinns fette Beute sein.
     

    C. Hartz IV
    An der Chiffre Hartz IV kommt keiner vorbei. Der Chor der Kritiker ist groß und vielstimmig, mit schrillen Tönen bis hin zu Dissonanzen á la Guido Westerwelle, denen aber entgegen der Harmonielehre keine Auflösung folgt. Sein Publikum, das er mit seiner Inszenierung vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai 2010 im Konzertsaal der FDP zu fesseln versuchte, erwartete nach seinem Crescendo den befreienden Satz, wie das hochgejubelte Thema des Arbeitseinsatzes von Hartz-IV-Empfängern denn konkret gelöst werden soll. »Schnee schaufeln« klingt dann wie eine Blockflöte im Orkan und enttäuscht die Erwartungen gerade seiner Anhänger, die er im Abwärtssog durch seine Tiraden halten wollte. Wenn dann der Schnee schmilzt, kommt der ganze Mist an den Tag.
    Übrig bleibt nämlich paradoxerweise die Tabuisierung einer Debatte, die durchaus notwendig und richtig ist, denn die maßlose Kritik an Hartz-IV-Empfängern, ihre pauschale Verhaftung als Sozialbetrüger und Arbeitsscheue, führt in der politischen Dialektik dazu, dass Hartz IV gegen jeden Einwand immunisiert wird. Jede Kritik an Konstruktionsfehlern oder Fehlsteuerungen von Hartz IV unterliegt jetzt einem politischen Bannstrahl - es sei denn, man ruft schlicht nach Leistungsverbesserungen oder abgesenkten Anforderungskriterien.
    Der Einführung von Hartz IV zum 1. Januar 2005 lagen vier Zielsetzungen zugrunde. Der Verschiebebahnhof zwischen alter Arbeitslosenhilfe - zuständig war der Bund - und Sozialhilfe - zuständig waren die Kommunen - sollte stillgelegt und stattdessen ein System geschaffen werden, das die Vermittlung von Arbeitslosen einschließlich erwerbsfähiger Sozialhilfeempfänger aus einer Hand betreut. Die verstärkten Vermittlungsbemühungen sollten mit einem erhöhten Druck kombiniert werden, aus der Arbeitslosigkeit wieder ins Berufsleben zurückzukehren, auch wenn ein neuer Job nicht mehr zu denselben Bedingungen zu haben war wie der alte. Das Prinzip »Fördern und Fordern« wurde in die Vitrine gestellt. Ferner sollten die Bürokratie abgebaut und mehr Mitarbeiter der alten Bundesanstalt für Arbeit an die Front der Vermittlung geschickt werden. Und schließlich war es das Ziel, Geld zu sparen.
    Unzweifelhaft haben die Arbeitsmarktreformen und die Agenda 2010 von Gerhard Schröder dazu beigetragen, dass der Arbeitsmarkt in den Jahren 2005 bis 2008 Aufwind erhielt und am Vorabend der Finanz- und Wirtschaftskrise statt 5 Millionen nur noch 3,3 Millionen Arbeitslose offiziell registriert waren. Der Einwand, dass sich von den 2 Millionen ehemaligen Erwerbslosen viele in einer prekären oder atypischen Beschäftigung wiederfanden, trifft zu, legt aber die abwegige Schlussfolgerung nahe, dass ein Verbleib in der Arbeitslosigkeit diesem Ergebnis vorzuziehen gewesen wäre. Entscheidend ist, dass der Neueinstieg in den Arbeitsmarkt wieder leichter wurde, wobei allerdings einzuwenden ist, dass circa ein Drittel nach wenigen Monaten aus solchen prekären Beschäftigungsverhältnissen wieder in Hartz IV zurückfällt. Die Arbeitslosenquote betrug 2008 7,8 Prozent. Im Strudel der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit stieg sie entgegen vielen Befürchtungen und Prognosen lediglich auf 8,2 Prozent im Jahr 2009 (Statistik der Bundesagentur für Arbeit), während um uns herum in Europa die Arbeitslosigkeit teilweise explodierte. Das ist gewiss nicht

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