Unterm Strich
konsequent genug. Das große Versprechen, Menschen aus der Langzeitarbeitslosigkeit in Jobs zu vermitteln, ist nicht wirklich eingelöst worden, weil es an Arbeitsplätzen mangelt, deren Nachfrageprofil dem Angebotsprofil der (geringqualifizierten und zum Teil nicht qualifizierungsfähigen) Langzeitarbeitslosen entspricht. Wenn es bei Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 5 Millionen erwerbsfähige Empfänger von ALG II und 1,8 Millionen Personen - vornehmlich Kinder - gab, die mit ihnen in Bedarfsgemeinschaften lebten, so müssen wir feststellen, dass es bis heute keinen nennenswerten Rückgang gegeben hat. Das mag teilweise auf die Finanz- und Wirtschaftskrise zurückzuführen sein. Aber selbst in den Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs bis 2008 ergab sich kein grundsätzlich anderes Bild.
Über Vermutungen und Verdächtigungen, die Leistungsbetrug nahelegen, mag ich nicht streiten, weil man dann sehr dünnes Eis betritt und die Debatte einen Drall bekommt, der nicht nur alle Zugänge zu Bemühungen versperrt, die Webfehler von Hartz IV einer unaufgeregten Prüfung zu unterziehen, sondern auch davon ablenkt, dass bei allen Subventionen und im Steuersystem prinzipiell Missbrauchsmöglichkeiten angelegt sind. Ihnen widmen sich allerdings einige politische Kräfte mit weitaus weniger Aufmerksamkeit, weil dies unwillkommene Schlaglichter auf ihre Klientel werfen würde. Ihr blindes Auge beispielsweise bei der Bekämpfung von Steuerbetrug in den Etagen, die dazu im Gegensatz zur breiten Masse der Lohnabhängigen in der Lage sind, spricht Bände und steht in einem krassen Gegensatz zur Lautstärke, mit der sie sich über sozialen Leistungsbetrug ereifern.
Die Vorsicht darf allerdings nicht dazu verführen, die Rechenbeispiele zu ignorieren, nach denen eine vollzeitbeschäftigte Verkäuferin, ein Metallarbeiter oder Gebäudereiniger - ledig, ohne oder mit einem Kind, verheiratet, mit mehreren Kindern - über ein Netto-Erwerbseinkommen verfügt, das nur knapp oberhalb oder sogar unterhalb des Haushaltseinkommens von Hartz-IV-Empfängern am selben Wohnort liegen kann. In nennenswert vielen Fällen liegen diejenigen, die täglich »auf Maloche gehen« und Steuern und Abgaben zahlen, netto nur deshalb um durchschnittlich 300 bis 360 Euro über dem Haushaltseinkommen von Transferempfängern, weil sie eine staatliche Aufstockung erfahren. Wenn sie dann auch noch die Rabatte und Vergütungen registrieren, die Transferempfängern, vom Nahverkehr über Zoobesuche bis hin zur Ganztagsgrundschule, eingeräumt werden, wenn also die Sozialeinkommen von Nachbarn am selben Ort auf ihre Löhne umgeschlagen werden, dann brennt dort die Lunte.
Die Analyse des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch und anderer kann man nicht einfach deshalb abtun und diskreditieren, weil sie von einem Absender kommt, der einem nicht passt. Das Problem des Lohnabstands und der falschen Anreize, sich im Transfersystem einzurichten, ist real und politisch relevant. Daran ändert sich auch nichts, wenn man Herrn Koch und begleitenden Kommentatoren mit Kraftausdrücken begegnet. Man muss seine Diagnose von seiner aus der Luft gegriffenen Therapie unterscheiden, die darin besteht, dass Hartz-I V-Empfänger als Gegenleistung für die staatliche Unterstützung auch öffentliche oder gemeinnützige Beschäftigungen annehmen müssen. Wo sind denn in der erforderlichen Zahl diese Stellen? Darin liegt die kritische Erwiderung: dass eine Lösung - verbunden mit einem Zwangsmechanismus - eingeflüstert wird, die es gar nicht gibt.
Das verminte Gelände dieser Diskussion erweitert sich noch - zumindest in meiner politischen Heimat -, wenn man die Frage zulässt, ob Hartz IV nicht einen De-facto-Mindestlohn definiert. Es gibt Berechnungen, nach denen der Anspruchslohn oder Äquivalenzlohn eines Hartz-IV-Empfängers, verheiratet, mit einem Kind, bei 11,50 Euro und für einen Single bei 8,15 Euro liegt. Das bedeutet aber, dass es selbst bei einem flächendeckenden Mindestlohn von 8,50 Euro immer noch attraktiver sein könnte, sich im Hartz-IV- und in ergänzenden Transfersystemen einzurichten.
Die theoretischen Antworten auf das Problem des Lohnabstandsgebots lassen sich in vier Kategorien zusammenfassen: erstens Steuersenkungen, zweitens eine Erhöhung staatlicher Zuschüsse für Geringverdiener oder Aufstockungen niedriger Löhne, drittens ein flächendeckender Mindestlohn oder viertens - in einer Art Szenenwechsel - eine Eindämmung des Niedriglohnsektors
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