Unterm Strich
als Wähler vom linken Rand zurückgewonnen werden könnten. Es ist nicht an der SPD, sondern an der Linkspartei, sich zu öffnen. Dazu müsste sie die Geschichte ihrer Vorgängerorganisation SED aufarbeiten und ideologischen Ballast abwerfen: Relikte eines Marxismus-Leninismus, eine antike Nationalökonomie sowie antiparlamentarische und antieuropäische Vorbehalte.
Die politische Mitte ist ein diffuser Ort. Sie ist mit sozialwissenschaftlichen Kategorien nicht zu fassen und bestimmt sich auch nicht nach Einkommens- und Berufsgruppen. Sie ändert ihre politischen Einstellungen mit den vom ökonomischen und gesellschaftlichen Wandel aufgeworfenen Problemen. Und mehr denn je verteilt sie ihre politische Gunst von Wahl zu Wahl unterschiedlich. Ich gebe Sigmar Gabriel recht, der anlässlich seiner Nominierung zum Vorsitzenden der SPD im November 2009 darauf hinwies, dass die politische Mitte kein fester Ort sei, kein Stammplatz einer bestimmten Gruppe in der Gesellschaft oder Wählerschaft. Gewonnen werde die Mitte von der politischen Kraft, die aus Sicht der Menschen die richtigen Fragen stelle und damit den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen am nächsten komme.
Zwei Irrtümer könnten diese an sich richtige politische Peilung durcheinanderbringen. Zum einen lassen sich die realen Verhältnisse nicht einfach zurechtbiegen. Um ein aktuelles Beispiel aufzugreifen: Die FDP ist mit ihren Steuersenkungsplänen gegen die Wand gefahren, weil sie die Spannung zwischen ihrem Mantra (die Bürger zahlen zu hohe Steuern) und den kruden Realitäten (leere öffentliche Kassen) nicht aufzulösen vermochte. Was vorherzusehen war. So wie Angela Merkel einen Tag nach der nordrhein-westfälischen Landtagswahl sämtliche Steuersenkungspläne des Koalitionspartners mit einem Schlag abräumte, hat selten eine politische Erziehungsberechtigte einen Budenzauber beendet. Dass sie das einen Tag nach der Wahl getan hat, bestätigt Vorurteile gegen die Politik. Der Anspruch, sich den herrschenden Realitäten und Verhältnissen nicht einfach anzupassen, sondern sie im Sinne einer verantwortungsvollen und werteorientierten Politik verändern zu wollen, enthebt nicht von einer zutreffenden Interpretation dieser Realitäten und Verhältnisse. Zu oft habe ich es in meiner Partei erlebt, dass sich die Wirklichkeit gefälligst am Parteiprogramm auszurichten habe - und nicht etwa umgekehrt. Das käme ja einer Kapitulation vor den Verhältnissen gleich. Nur: Die Menschen merken, wenn das Deutungsmuster einer Partei nicht mit ihren Wahrnehmungen und Erfahrungen korrespondiert. Und dann fällt es ihnen schwer, dieser Partei die Deutungshoheit anzuvertrauen.
Zum anderen wäre es ein Irrtum, zu glauben, mit dem Gewinn der Deutungshoheit hätte man den Streit zwischen Mitte und links schon gelöst. Das galt weder in der Rosenzeit von Willy Brandt, 1971 bis 1973, in der die SPD ihren (bisher!) größten Wahlsieg errang. Damals erreichte der Deutungsanspruch des linken Teils der SPD keineswegs die politische Mitte der Gesellschaft; es genügt ein Blick in die Protokolle des Hannoveraner Parteitags vom April 1973. Das galt erst recht nicht während der Regierungszeiten von Helmut Schmidt und Gerhard Schröder, in denen sich die Deutungskraft der SPD allenfalls partiell aus dem linken Spektrum speiste, aber die SPD insgesamt breit aufgestellt und sogar in einem konservativ gestimmten, aber Kompetenz suchenden Bürgertum verankert war. Sowenig die SPD ihre verschiedenen Strömungen auch in Zukunft auf ein Deutungsmuster wird vereinigen können, so wenig wird der CDU eine Synthese aus marktfixierten Modernisierern, Anhängern eines konservativ-rheinischen Kapitalismus und Wertkonservativen gelingen.
Wenn es stimmt, dass die politische Mitte auch und gerade unter dem Einfluss der ökonomischen und gesellschaftlichen Prozesse beweglich und mit einem überzeugenden Deutungsmuster zu erobern ist, warum gelingt es dann der CDU/CSU um einige Prozentpunkte erfolgreicher - jedenfalls bisher -, diese Mitte zu erreichen? Obwohl sie doch kein fester Ort im Sinne ihrer Vorstellungen einer konservativ-bürgerlichen Mitte ist. Auch in keiner anderen Partei findet sich die Mitte annähernd komplett abgebildet. Umso mehr gilt, dass sich politisch anpassen muss, wer sie erobern will, und dabei hat jede der fünf klassischen Parteien eigene Widerstände aus dem Weg zu räumen. Die SPD muss in der Mitte vor allem gegen den Verdacht ankämpfen, zu sehr einer
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