Unterm Strich
Berufes zeitlich weniger beansprucht werden oder den beruflichen Lebensabschnitt schon hinter sich haben. Sie sind in den Parteien überproportional vertreten. Das schneidet die Parteien von jenem Teil der Wirklichkeit ab, in dem die Konfrontation mit den wirtschaftlichen, technologischen und sozialen Neuerungen am intensivsten ist. Peter Glotz sprach in diesem Zusammenhang von einer »Erfahrungsverdünnung« in den politischen Parteien. Solange sich die Parteien nicht um eine Öffnung bemühen, die denen, die mitten im Berufsleben stehen, passende Artikulations- und Partizipationsmöglichkeiten bietet, werden die Parteien den sich wandelnden Realitäten weiter hinterherhinken. Sie erscheinen als Getriebene. Den Wählern am Puls der Zeit entgeht das selbstverständlich nicht. Sie erklären die Parteien für realitätsfern, antiquiert und inkompetent und beteiligen sich im Extremfall nicht mehr an Wahlen.
Innerhalb der Parteien wirkt ein feiner Mechanismus auf diejenigen Mitglieder, die für parteiinterne Funktionen oder für ein Mandat auf dem Ticket ihrer Partei kandidieren wollen. Die Kandidaten sind angehalten, zu unterschiedlichen Themen - die sie gar nicht alle überblicken können - auf Knopfdruck wohlklingende und parteipolitisch korrekte Erklärungen vorzutragen. Sonst haben sie gar keine Chance, parteiintern aufgestellt zu werden. Ulrich Pfeiffer hat ausgeführt, wie auf diesem Weg der vorfabrizierten Meinungen ein Kodex parteiverträglichen Wissens entsteht. Dieser Kodex hat nicht die Funktion, die Wirklichkeit abzubilden. Seine standardisierten Formeln entsprechen häufig auch gar nicht der kritischen Meinung dessen, der daraus vorträgt. Grundlage des Kodex sind parteiinterne Abstimmungen in Gremien und Nebenzimmern, »in denen Second-Hand-Positionen so miteinander verknüpft wurden, dass sie, gemessen an den bisherigen Doktrinen und Meinungen, verträglich sind«. Was möglicherweise der Abgrenzung zu anderen Parteien und der Selbstvergewisserung der eigenen Riege dient, dürfte Wähler, die eine offene Auseinandersetzung jenseits der Bestätigung vorangegangener Positionen erwarten, nicht gerade begeistern.
Parteiprogramme und Wahlprogramme dürfen möglichst wenig von diesem Kodex parteiverträglichen Wissens abweichen. Sonst sind sie nicht konsensfähig. Ein breiter Konsens ist aber erforderlich, damit Programme und Positionsbestimmungen mobilisieren und von einer überstimmten starken Minderheit anschließend nicht zerredet, zerschossen und kleingehäckselt werden. Das dadurch entstehende öffentliche Bild der innerparteilichen Zerrissenheit würde direkt auf einen Abstiegsplatz führen.
Viele Grundsatzprogramme wirken schon bei ihrer Präsentation anachronistisch. Sie hinken den Realitäten hinterher. Programme, die Ballast abwerfen, Zukunftsströmungen aufnehmen und Regierungsfähigkeit unter Beweis stellen, sind äußerst selten; das in diesem Sinne folgenreichste Grundsatzprogramm in der Nachkriegsgeschichte der SPD war das Godesberger Programm von 1959 - das ist mehr als ein halbes Jahrhundert her! Es war nicht nur, aber auch, eine notwendige Reaktion auf Adenauers überwältigenden Sieg in der Bundestagswahl von 1957, und es befreite die SPD - nicht ganz, aber weitgehend - sowohl von marxistischen Relikten als auch, wenig später, aus ihrer außen- wie sicherheitspolitischen Isolation. Durch die Verpflichtung der SPD auf die soziale Marktwirtschaft und die Westintegration samt eigener Streitmacht eröffnete sich ihr der Weg in die Regierungsverantwortung.
Wo Grundsatzprogramme ihrem Sinn und Zweck, Grundsätze zu den zentralen Fragen der Zeit zu formulieren, nicht entsprechen, wo sie einem Kompendium ähneln, in dem zu allem und jedem Stellung bezogen wird, wo sie den Charakter eines politischen Wunschkatalogs aufweisen, werden sie keine Ausstrahlung und Wirkung entfalten - nicht in den eigenen Reihen und erst recht nicht darüber hinaus. In diesem Sinne haben weder das Berliner Programm von 1989 noch das Hamburger Programm von 2007 der SPD auch nur annähernd die politische Wirkungskraft entfaltet wie seinerzeit das Godesberger Programm.
Das politische Alltagsgeschäft wird durch eine Flut von Programm- und Positionspapieren, Anträgen und Resolutionen bestimmt, deren Hauptzweck es zu sein scheint, die Binnenkommunikation aufrechtzuerhalten und dafür zu sorgen, dass der Kodex parteiverträglichen Wissens gewahrt bleibt. Die Bewerbungsrede eines Kandidaten auf einer Parteikonferenz ist
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