Unterm Strich
eines massiv verschärften Strafrechts den Beifall der Wähler zu sichern. Das durchsichtige Manöver scheiterte. Grundsätzlich wurde an diesem Beispiel deutlich: Hemmungslos inszenierte Kampagnen, die suggerieren, dass komplizierte Probleme mit einfachen Lösungen bewältigt werden können, entwickeln eine Eigendynamik, die das Publikum nicht selten erschaudern und an der Politik verzweifeln lässt. Solche Kampagnen richten sich letztlich gegen ihre Erfinder.
Politik wird immer wieder Kampagnen organisieren, um ein Thema zu beflügeln, Anhängerschaft zu mobilisieren oder Profil zu zeigen. Aber wenn Kampagnen fast »kriegswissenschaftlich« durchgeführt werden, ihre Botschaften dröhnend abheben von dem, was die Bevölkerung als Kern des Problems längst erfasst hat, und unversöhnliche Gegnerschaften zurückbleiben, dann zerstört Politik ihr eigenes Fundament. Skrupellose Kampagnen können zu schweren Verletzungen der Politik mit langen Nachwirkungen führen. Namentlich ihren Urhebern hängen solche Exzesse lange nach.
Dabei genügen schon die leichteren Verletzungen, die sich die politischen Kontrahenten im Alltag gegenseitig zufügen, um den Bürger an der Urteilsfähigkeit von Politik verzweifeln zu lassen: rhetorische Selbstvergewisserungen, denen jeder Bezug zur Realität fehlt; Wahlziele, die erkennbar außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit liegen; geistig-politisches Pathos, das durch zweifelhafte Entscheidungen und persönliche Defizite offenkundig widerlegt wird; Lagebeschreibungen, die jeder Ernsthaftigkeit spotten; Zukunftsszenarien, die erkennbar auf Sand und Hoffnung gebaut sind; Charakterisierungen des politischen Gegners, die offenbar auf Personenverwechslung beruhen - all das bereitet Verdruss, weil es die Wahrnehmung und Urteilsfähigkeit von Millionen Menschen missachtet, wenn nicht sogar beleidigt.
Der Mythos vom gefräßigen Staat
Im alten Griechenland war ein Mythos eine »sagenhafte Geschichte«, eine erzählerische Verknüpfung weit zurückliegender, schier unglaublicher Ereignisse. Auch heute gibt es manche politischen Geschichten, denen »sagenhafte Fakten« zugrunde liegen, Fakten, die auf der Basis selektiver politischer Wahrnehmung zu großen Erzählungen zusammengestellt werden. Dass diese Legenden die Realität nur unvollkommen abbilden, spielt keine Rolle, solange sie die Aufmerksamkeit des Zuhörers zu fesseln wissen und sein Weltbild bedienen. Eine der großen politischen Erzählungen unserer Zeit ist der Mythos vom gefräßigen Staat. Zu seiner Entzauberung will ich beitragen.
Den ersten Satz des Epos formulierte kein Geringerer als Ronald Reagan mit dem Satz: »Der Staat ist nicht die Lösung der Probleme, der Staat ist das Problem.« Dass Reagan den Amerikanern mit seinem antietatistischen Feldzug und massiven Steuersenkungen einen völlig maroden Staatshaushalt und eine verteilungspolitisch krasse Schieflage hinterließ, ist eine der vielen verdrängten Tatsachen, die hier nicht weiter beleuchtet werden sollen. Auch auf eine Bemerkung zur Politik Margaret Thatchers verzichte ich. Über Großbritannien jedenfalls wanderte das Virus in den achtziger Jahren nach Deutschland ein und wurde hier nach Kräften weitergezüchtet. Heute ist die sagenhaft schreckliche Geschichte vom Staat, der sich satt und rund frisst an den Steuern seiner Bürger und darüber ineffizient und behäbig wird, jedem Kind bei uns geläufig. Dieser Staat zieht immer mehr Aufgaben an sich und entmündigt den Bürger; zu einem ökonomisch vernünftigen Wirtschaften ist er freilich nicht in der Lage, ja nicht einmal willens.
Als wichtiges Indiz für die Richtigkeit dieser Geschichte muss die sogenannte Staatsquote herhalten. Sie weist den Anteil aller staatlichen Ausgaben an der wirtschaftlichen Gesamtleistung einer Volkswirtschaft aus. In der Vorstellung seiner Gegner ist nur der Staat ein guter Staat, der so wenig wie möglich von der gesamtwirtschaftlichen Leistung in Anspruch nimmt, sich weitestgehend heraushält aus ökonomischen Aktivitäten und die freien Kräfte des Marktes walten lässt. Das diene dem Wohl aller - eine Annahme, die in der Finanz- und Wirtschaftskrise einen ziemlichen Knacks bekommen hat.
Die nackten Zahlen sprechen keineswegs eine so eindeutige Sprache, wie die Staatsgegner behaupten. Im Jahr 2007 - also im Jahr des Ausbruchs der Krise - betrug die Staatsquote in Deutschland 43,7 Prozent. Sie war durch Entscheidungen sowohl der rotgrünen als auch der schwarz-roten
Weitere Kostenlose Bücher