Unterm Strich
Koalitionsregierung nach einem Höchststand von 49,3 Prozent im Jahr 1996 deutlich gesunken, ehe sie krisenbedingt 2009 wieder auf 48 Prozent stieg. Das hinderte die Agitatoren der Entstaatlichung keineswegs daran, weiterhin ihr Lied vom gefräßigen Staat zu singen. Erst als im selben Jahr 2007 deutlich wurde, dass die Staatsquote ausgerechnet in Großbritannien, das all die Jahre als ordnungspolitisches Vorzeigeland galt, mit 44 Prozent höher lag als in Deutschland, erstarb das Lied zu einem Säuseln und erreichte nicht mehr viele Ohren.
Richtig ist, dass die Staatsquote im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise wieder deutlich angezogen hat; das geht auf die Stabilisierungsmaßnahmen in der Krise zurück. 2009 stieg sie in Deutschland auf 48 Prozent, in Großbritannien sogar auf über 51 Prozent. In den USA erhöhte sie sich im Zeitraum 2007 bis 2009 rasant von 36,7 Prozent auf 42,2 Prozent, wobei zu berücksichtigen ist, dass die öffentlichen Sozialleistungen in den USA deutlich geringer sind als in Deutschland und die Staatsquote dementsprechend niedriger ausfällt. Schließlich beschäftigt der Bund heute erheblich weniger Staatsbedienstete als vor der Vereinigung. Kurzum: Die Befürworter des schlanken angelsächsischen Modells, das doch angeblich viel leistungsfähiger ist als der deutsche Sozialstaat, folgen einer Sage statt empirischen Zahlen.
Dem Mythos vom gefräßigen Staat, dem man mit Maßnahmen der Steuer- und Haushaltspolitik beikommen will, steht am anderen ideologischen Ufer der Mythos des omnipotenten Staates als einer Institution gegenüber, die für die Abwehr aller Unbill verantwortlich ist und letzte Sicherheit garantiert. Daraus wird der politische Anspruch abgeleitet, immer mehr Ressourcen staatlich zu absorbieren und zu verteilen. Welche politischen Parteien oder Kräfte welche Ableitungen wie begründen, interessiert allenfalls am Rande. Der entscheidende Punkt ist, dass wir im Zuge dieser Mythologisierung in Deutschland das Verhältnis von Markt und Staat - anders als in allen europäischen Ländern, in denen ich politische Einblicke sammeln konnte - durchweg als Spannungsverhältnis definieren.
Ohnehin zu Grundsätzlichkeit und Prinzipienhuberei neigend, debattieren wir das Verhältnis von Markt und Staat als kontradiktorisch und strengen darüber politische Feldzüge an. Dagegen empfinde ich die Debatte »mehr Staat« oder »mehr Markt« beziehungsweise »Staat statt privat« als rückwärtsgewandt; diese Codierung stammt aus der ideologischen Rüstkammer des letzten Jahrhunderts. Jenseits solcher Fixierungen lautet die weiterführende Frage stattdessen, wie und wo sich Staat und Markt unter den heutigen Bedingungen ergänzen können. Müssten nicht alle politischen Anstrengungen auf eine gesellschaftlich akzeptierte Synthese von Markt und Staat gerichtet sein? Die Ziffer der Staatsquote ist jedenfalls viel weniger relevant als die Parameter eines Wachstums- und Wohlstandsniveaus, an dem möglichst alle Teile der Gesellschaft partizipieren.
Zu Beginn der sechziger Jahre hatte uns Karl Schiller schon einmal eine Generalformel vorgeschlagen: »So viel Markt wie möglich und so viel Staat wie nötig.« Das ist gerade unter den Erfahrungen der Krise ein Nenner, den es weiterzudeklinieren lohnt.
Wir werden auf das Wettbewerbselement des Marktes, seinen Anreiz- und Effizienzmechanismus und seinen enormen Vorteil, dezentrale Entscheidungen zusammenzuführen (statt zentrale Entscheidungen zu exekutieren), ebenso wenig verzichten können wie auf einen handlungsfähigen Staat. Der sollte nicht fett sein und auch kein bürokratischer Moloch. Er muss sich jedoch als Hüter von Nachhaltigkeit unter anderem auch im Sinne finanzieller Solidität und damit als Treuhänder der Steuerzahler verstehen. Er soll für soziale Balance, Aufstiegschancen durch Bildung, Generationengerechtigkeit und funktionsfähige Märkte sorgen. Märkte sind Mittel, kein Zweck, dem sich Gesellschaft und Politik unterzuordnen haben. Wenn sie sich wie in der Finanzkrise autoaggressiv gebärden, müssen sie gezähmt werden. Dazu muss der Staat Verkehrsregeln festlegen und deren Einhaltung durchsetzen. Und dazu braucht der Staat Ressourcen, also Einnahmen in Form von Steuern.
Die Frage nach einer angemessenen Finanzausstattung des Staates ist unvollständig und halbherzig, solange sie den entscheidenden Bezug scheut. Sie ergibt nur Sinn in Verbindung mit der Frage, welche Erwartungen und Ansprüche die Bürger an das
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