Unterm Strich
staatliche Leistungssystem stellen. Erst dann lässt sich die Frage beantworten, wie die finanzielle Ausstattung des Staates aussehen soll. Wenn ein hohes Niveau der Erwartungen und Ansprüche an die staatlichen Leistungen einem gewachsenen gesellschaftlichen Konsens entspricht - wie zum Beispiel in einigen skandinavischen Staaten -, dann muss die Gesamtnachfrage nach öffentlichen Leistungen mit einer entsprechenden Mittelausstattung des Staates korrespondieren.
Verbietet sich die Flucht in die öffentliche Verschuldung, sind zwei Wege verbaut: die Ausweitung staatlicher Leistungen bei gleichen und erst recht bei sinkenden Einnahmen einerseits und die Reduzierung der öffentlichen Einnahmen etwa durch Steuersenkungen bei gleichen und erst recht bei steigenden öffentlichen Leistungen andererseits. Die Formel Steuersenkungen = Wachstum = Steuermehreinnahmen = Ausgleich der Mindereinnahmen in den öffentlichen Haushalten ist »keine erprobte Erfahrung oder Wahrheit, sondern ein ideologischer Glaubenssatz«. Wer will, kann in seriöse Studien unverdächtiger Autoren eintauchen, die der Glücksformel sich selbst finanzierender Steuersenkungen jeden Boden entziehen. Danach führt eine Steuersenkung - also ein Einnahmeverlust der öffentlichen Haushalte - in Höhe von 1 Milliarde Euro bei voller Jahreswirkung zu Mehreinnahmen von lediglich 250 bis 500 Millionen Euro und hinterlässt dementsprechend eine Lücke von 750 bis 500 Millionen Euro. Wer diese empirischen Studien nicht zur Kenntnis nehmen will, sollte die Hände von der Finanzpolitik lassen. Die Mär vom sich selbst finanzierenden Steuersenkungen erinnert auf fatale Weise an die Alchimisten des Mittelalters, die versprachen, aus irgendwelchen Klumpen Gold zu machen.
Die Sachverhalte sind ökonomisch eigentlich ziemlich simpel. Politisch fällt es jedoch ungeheuer schwer, sie zu akzeptieren. Und von der Qual der politischen Einsicht zur Bereitschaft zu gelangen, die Erkenntnisse in konkrete Politik umzusetzen, ist es ebenfalls ein langer Weg. Die ökonomische Logik läuft politisch ohne große Umwege auf nichts anderes hinaus als auf eine doppelte Absage: eine Absage an alle Steuersenkungspläne, die eine Nettoentlastung versprechen, und eine Absage an alle sozialen Versprechen, die dem Staatshaushalt unter dem Strich netto eine Mehrbelastung bescheren. Soweit es hier noch irgendwelche Illusionen gibt, ist es an der Zeit, ihnen den Blattschuss zu verpassen.
An dieser Stelle ist mir zunächst an dem Hinweis gelegen, dass ich aufkommensneutrale Lösungen - also Umschichtungen innerhalb des Sozialetats oder des Steueraufkommens - sehr bewusst nicht ausgeschlossen habe. Im Gegenteil. Genau hier liegen die zukünftigen Herausforderungen für politische Gestaltung: die Zielgenauigkeit der Sozialausgaben bis hin zur Familienförderung und die Wachstumsstimulierung des Steuersystems zu verbessern.
Fällt es dem einen oder anderen schon schwer, den Zusammenhang zwischen der Finanzausstattung des Staates und dem Erwartungs- und Anspruchsniveau der Gesellschaft zu akzeptieren, dann dürfte es geradezu als Zumutung empfunden werden, wenn ich ergänze, dass die Finanzausstattung unseres Staates, gemessen an den Erwartungen und Ansprüchen der Bürger quer durch alle Bevölkerungsschichten, unzureichend ist. Darauf können sich jetzt beide Seiten ihren Reim machen, diejenigen, die die Finanzausstattung für zu niedrig, und diejenigen, die das Anspruchsniveau der Bürger für zu hoch halten. Die Kernfrage, an der sich die Zukunft unseres Landes entscheidet, warf der Journalist Nikolaus Piper in einem Artikel für die Süddeutsche Zeitung auf. Sie lautet: Gelingt es, die Erwartungen und Ansprüche an den Staat mit der Finanzierungsfähigkeit und Finanzierungsbereitschaft der Bürger in Einklang zu bringen? Solange dieser Frage aus dem Weg gegangen wird, wird es auch keine Verständigung darüber geben, was Sache des Staates ist und was nicht. Wenn man ihn einfach nur austrocknet und ihm - vor allem auf der Ebene der Kommunen, die für 2010 ein Rekorddefizit von 15 Milliarden Euro erwarten - über Steuersenkungen weitere Mittel entzieht, wird er seine gesellschaftliche Bindekraft schneller verlieren, als sich seine Kritiker dies vorzustellen vermögen.
Mit dem Mythos vom gefräßigen Staat auf das engste verwandt ist das Ammenmärchen von der exorbitanten Steuer- und Abgabenbelastung in Deutschland. Diese führt angeblich dazu, dass Bürger und Unternehmen gezwungen sind, in
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