Unterm Strich
Stellungnahmen und Zusagen stehen. Einer solchen Situation entkommt man nicht, ohne politisch Schaden zu nehmen, auch dann nicht, wenn die Korrekturen oder Neujustierungen aus der Sache zu erklären sind. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozent zum 1. Januar 2007 ist dafür ein Beispiel. Im Bundestagswahlkampf 2005 hatten sowohl die SPD als auch die CDU/CSU eine solche Maßnahme ausgeschlossen. Angesichts eines strukturellen Haushaltsdefizits des Bundes von etwa 55 Milliarden Euro Ende 2005 hielt ich eine Einnahmeverbesserung für zwingend erforderlich. Allen, die am Kabinettstisch der großen Koalition saßen, war bewusst, dass die Erhöhung als Wortbruch ausgelegt werden und uns nicht nur von der Opposition, sondern schmerzhafter noch von den Bürgern in vielen Veranstaltungen um die Ohren gehauen würde. So kam es auch.
Eine solche Lage, in der eine finanzielle Zusage oder ein materielles Versprechen zurückgezogen wird, ist schon schwierig genug. Aber zum Desaster wird ein Wortbruch in der Politik, wenn es um die Machtfrage geht. Einen solchen Wortbruch beging Andrea Ypsilanti mit der hessischen SPD, als sie im Januar/Februar 2008 im Lichte eines grandiosen Wahlerfolges, aber eben nicht eines demokratischen Wahlsieges, entgegen vorherigen definitiven Absagen eine Duldung durch die Linkspartei zur Strategie erhob, um Ministerpräsidentin zu werden. Auf die damit ausgelösten Verwerfungen, Animositäten und Nachwirkungen innerhalb der SPD und die verheerenden Folgen für die Partei komme ich noch zurück. Hier geht es um den fundamentalen Irrtum, dass ein Wortbruch gerechtfertigt sein könnte, wenn er dazu dient, an die Macht zu gelangen, also das zentrale Anliegen jeder politischen Bewerbung realisiert. Andrea Ypsilanti und ihre politischen Freunde versuchten ihre Kehrtwende mit dem Argument zu rechtfertigen, das Wahlversprechen eines Politikwechsels in Hessen sei höher zu bewerten als eine Koalitionsaussage. Diese Rationalisierung verstand außer ihren Erfindern kaum jemand. Das breite Publikum sah darin vielmehr eine für die Politik typische Rabulistik.
Was mich ärgerte, war der ebenso billige wie konstruierte Vergleich dieses Wortbruchs mit dem Wortbruch zur Erhöhung der Mehrwertsteuer. Wer hier eine Vergleichbarkeit sieht und das Kaliber nicht zu unterscheiden vermag, leidet unter einem erheblichen Wahrnehmungsdefizit. Der hessische Wortbruch erschütterte die Vertrauensbasis der SPD auf das schwerste und wirkt bis heute nach. Die Frage »Wie hältst düs mit der Linkspartei im Jahr 19 nach der deutschen Vereinigung?« lieferte den weitaus geringeren Stoff für die innerparteilichen Auseinandersetzungen, die auf den Schwenk folgten. Nein, die Sozialdemokraten um Andrea Ypsilanti begriffen nicht, dass ihr Wortbruch all jene Verdächtigungen und Vorurteile gegen die Politik geradezu bestätigte, die ihr schon immer unterstellt wurden, dass nämlich Politiker alle Mittel und Wege zum Machterwerb und Machterhalt nach dem Motto einsetzen: »Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern.«
Die Folgen dieses politischen Wortbruchs waren ein Jahr später im Bundestagswahlkampf noch zu spüren. Nicht im Sinne massiver Vorhaltungen, aber als ein ständig mitschwingender Unterton, der nach meiner Überzeugung das schlechte Ergebnis der SPD im September 2009 mit bewirkte. Die Folgen reichten schließlich bis in den nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf im Frühjahr 2010, als die Spitzenkandidatin der SPD, Hannelore Kraft, laufend mit der »Ypsilanti-Falle« konfrontiert wurde und eine sportlich anerkennenswerte, politisch nicht ungefährliche Gelenkigkeit entwickeln musste, um da nicht hineinzutappen.
Der Wahlkampf zur hessischen Landtagswahl im Januar 2008 bietet auch Anschauungsmaterial, wie sich die Politik durch überzogene Kampagnen selbst ins Bein schießt. Die hessische CDU mit Roland Koch glaubte, einem nicht zu Unrecht befürchteten Abwärtstrend entgegenwirken zu müssen, indem sie eine Kampagne mit stark emotionalem Charakter vom Zaun brach. Das hatte in einem der Wahlkämpfe davor schon einmal verfangen, als Roland Koch mit der hessischen CDU eine Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft inszenierte und über die entflammte Stimmung gegen Ausländer ins Amt des hessischen Ministerpräsidenten getragen wurde. Jetzt ging es um ein Nachfolgemodell. Jugendliche Straftäter, noch besser: ausländische jugendliche Kriminelle, müssten dafür herhalten, der CDU mit dem Köder
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