Unterm Strich
denn auch vor allem darauf gerichtet, den Delegierten als linientreu und gefestigt zu erscheinen. Jeder Unmut, alles, was als Störung oder gar Provokation empfunden werden könnte, ist tunlichst zu vermeiden. Vielmehr gilt es, die Delegierten mit den ihnen seit langem vertrauten Schlüsselbegriffen, Ausflügen in die Seele der Partei und Attacken auf die bevorzugten Gegner zu erwärmen. Kaum eine dieser Reden würde auf einem Marktplatz bei gemischtem Publikum verfangen.
50 Prozent der Bundestagsabgeordneten werden über Parteilisten ins Parlament entsendet. Über diese Listen entscheiden Parteigremien. Aber auch die anderen 50 Prozent der Abgeordneten, die direkt in den Bundestag gewählt werden, benötigen im Vorfeld den Segen der Gremien. Für viele aufstrebende oder nach Bestätigung ihres Mandats suchende Parteimitglieder ist daher die Delegiertenkonferenz oder der Parteitag der Ernstfall der Politik, dort entscheidet sich ihre Zukunft als Politiker oder Politikerin. Das Ergebnis sei eine wachsende Kluft zwischen dem Zeitgespräch innerhalb der Parteien und dem Zeitgespräch in der Gesellschaft, konstatierte Peter Glotz schon 1997.
Die innerparteiliche Ausrichtung und die Beschaffung von Legitimation in den Parteigremien haben eine unverhältnismäßige Bedeutung erlangt gegenüber der eigentlich entscheidenden Frage, wie denn die Wählerschaft eine Kandidatin oder einen Kandidaten sieht - und dann in der Wahlkabine legitimiert. Als Bundestags- oder Landtagskandidat einer großen Partei kann man mit seinen Erststimmen regelmäßig einige Prozentpunkte unter dem Zweitstimmenergebnis für die Partei liegen und dennoch mehrere Legislaturperioden überleben. 50 oder 60 Prozent auf einem Bezirksparteitag oder einer Landesdelegiertenkonferenz sind aber der sichere politische Tod. Man kann beim Wähler ein politischer Statist sein, aber in Parteigremien einer der Wortführer.
Unter den Frauen und Männern, die sich erstmals für einen Listenplatz bewerben, setzen sich in der Regel keineswegs diejenigen mit den größten Chancen beim Wähler durch, sondern diejenigen, die am ehesten »parteiaffin« sind. Quereinsteiger und Außenseiter können noch so gut sein und die besten Voraussetzungen für einen Wahlkreis mitbringen, am Ende verlieren sie gegen einen Kandidaten oder eine Kandidatin, die inhaltlich und rhetorisch abfallen und weniger gut auf den Wahlkreis zugeschnitten sind, dafür aber eine idealtypische Parteibiographie (in der SPD auch Gewerkschaftsbiographie) aufweisen. Das kann schon am Outfit scheitern. Nicht die Frage »Mit wem können wir gewinnen?«, sondern »Wie können wir bleiben, wie wir sind?« gibt nur allzu häufig den Ausschlag bei einer Kandidatenkür. Jedenfalls stimmen die Eigenschaften, die einer Parteikarriere dienlich sind, nicht unbedingt mit den Eigenschaften überein, die geeignet sind, den Wähler zu beeindrucken.
Der hier beschriebene Mechanismus gilt ausnahmslos für alle Parteien, die sich auf diese Weise in einem System einigeln, indem sie sich auf sich selbst reduzieren und vornehmlich sich selbst begegnen. Bei einigen Parteien kommt hinzu, dass selbsternannte Sittenwächter öffentlich darüber richten, was parteipolitisch korrekt ist und was nicht, welche Aussagen erlaubt sind und welche nicht. Diese Sittenwächter machen sich in den Medien gern wichtig. Wenn es allzu heftige Ausreißer gibt, werden auch kleine Revolutionstribunale einberufen. Manchmal hatte ich den Verdacht, dass es in meiner eigenen Partei eine in den Statuten nicht aufgeführte geheime Glaubenskongregation geben müsse, die über die Einhaltung der Lehrmeinung wacht.
Bei der CDU/CSU ist es nicht besser. Da frönen einige einem Korpsgeist, in dem so ziemlich jede Verfehlung verziehen und unter den Teppich gekehrt wird, solange man in Treue fest zusammensteht. Die Linkspartei hat sich eine Tauchermaske aufgesetzt, durch die sie die ganze Gesellschaft nur noch als eine Ansammlung von Opfern sieht: Kinder, Schulabgänger, Studenten, Eltern, Hartz-IV-Empfänger, Arbeitnehmer, Rentner - alles Opfer. Die FDP hat das Kunststück geschafft, sich auf ein einziges Thema zu verkürzen und sich darüber selbst in Geiselhaft zu nehmen: Steuersenkungen. Gemeinsam ist allen, dass selbst schwerste Wahlniederlagen in kabarettreifen Schwurbeisätzen zu kleinen »Dellen« umgedeutet werden. Spitzenkandidaten können krachende Niederlagen von minus 10 Prozent und mehr einfahren: Es lag selbstredend nicht an ihnen. Berlin, die
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